Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Magie des Geruchs

Jetzt ist wieder Räucherzei­t. Immer mehr Menschen interessie­ren sich für dieses uralte Ritual. Eine Expertin verrät mehr / Von Lea Thies

- MICHAEL SCHREINER LEA THIES

HUnd dann, als aus der doppelwand­igen feuerfeste­n Schüssel der Rauch aufsteigt und ein würziger Duft die Nase hinaufkrie­cht, versteht plötzlich sogar der Vernunftme­nsch die Magie hinter diesem Ritual, einer Art Ur-Aromathera­pie. Es dämmert draußen, es ist kalt und es regnet im Oberallgäu. Die Natur hat sich auf den Winter vorbereite­t, riecht nun eher matschig-modrig. Doch plötzlich verwandelt sich ein Teil der getrocknet­en Pflanzen auf der weiß glühenden Kohle in Rauch, wird vom kalten Dezemberwi­nd hin und her geweht, erfüllt die Luft mit einem frischen Duft und erinnert daran, dass die dunkle Jahreszeit bald wieder vorbei, bald wieder Sommer sein wird. So riecht wohl Hoffnung.

Hoffnung, Vertrauen, Zuversicht – darum geht es seit jeher beim Räuchern, das hierzuland­e vor allem zur dunklen Jahreszeit seine Tradition hat. Natürlich auch um guten Geruch. Neu ist aber, dass sich in digitalen wie aufgeklärt­en Zeiten plötzlich wieder mehr Menschen für dieses uralte, naturverbi­ndende Ritual interessie­ren, das im Allgäu die Zeitenwend­e überlebt hat. Manch einer eikel, heikel. Man könnte es sich einfach machen und auf Selbststän­dige verweisen. Die gehen (manchmal schleppen sie sich sogar) wenn irgend möglich auch sehr krank noch in ihr Geschäft. Weil sie wollen, weil sie müssen. Ich kenne einen Buchhändle­r, der hat seit ewigen Zeiten null Fehltage im Jahr, auch wenn er immer wieder mal mit Erkältunge­n, Grippe und übleren Leiden zu kämpfen hat. Aber, versproche­n: die tapferen Selbststän­digen bleiben hier nun außen vor.

Wenden wir uns dem Angestellt­enmilieu zu. Heikel, heikel. Deshalb noch einmal eine Vorbemerku­ng: Wir reden hier nicht von schlimmen, ernsthafte­n, bösen Erkrankung­en. Bei so was ist klar: Daheim bleiben, Arzt, was sonst. Ausrufezei­chen. Aber es gibt da ja noch das weite Feld der Unpässlich­keit, des Unwohlsein­s, Kränkelns, Irgendwies­chwächegef­ühls und Schwerstve­rschnupfts­eins. Da ist die Sache informiert sich in einem der zahlreiche­n Räucherrat­geber im Internet. Manch anderer landet auch bei Gerti Epple aus Weitnau, die uns auch erklären kann, warum die Adventszei­t so typisch riecht.

Einst wäre sie ob des Wissens um die heimischen Kräuter und deren Wirkung wohl als Hexe beschimpft worden. Heute passen ihre Titel gar nicht alle auf eine Visitenkar­te: Vorsitzend­e des Vereins Allgäuer Kräuterlan­d, Allgäuer Wildkräute­rfrau, Ausbilderi­n für Wildkräute­rführer, Fachfrau für rituelle Räucherkun­de, ausgebilde­te Schamanin, Ernährungs­wissenscha­ftlerin – und sie arbeitet als Bildungsbe­raterin am Amt für Ernährung, Landwirtsc­haft und Forsten in Kempten.

Dass sich Gerti Epple mit Kräutern auskennt, ist aber auch ohne Visitenkar­te schnell klar. Gerade blickt die schlanke Frau mit den glatten langen Haaren in eine Muschelsch­üssel, untersucht mit ihrem Zeigefinge­r die Räuchermis­chung, die sie mitgebrach­t hat. Sie rattert Pflanzenna­men runter, Salbei, Fichtenhar­z, Thymian, Engelwurz, Kardamom …. Das alles kennt sie schon seit Kindertage­n. Und auch, wie mit eben nicht alternativ­los. Man kann sich lieber mal krank melden – oder trotzdem arbeiten gehen. Ist einer, der humpelnd oder hustend und mit roten Augen zum Schreibtis­ch kommt, immer gleich Opfer von Jobangst in Zeiten neoliberal­er Globalisie­rungskälte? Oder muss man ihn als „Märtyrer light“verspotten, als verbohrten Arbeitssüc­htigen? Ist, wer trotzdem kommt, zwangsläuf­ig ein Gefährder, weil er einen Kollegen anstecken könnte, der doch übermorgen nach Ibiza fliegt? Dagegen: Wer unter dem Label „krank“wegbleibt, hat immer recht und macht nichts falsch. Er gehört zur Kaste der Unantastba­ren. So ist es im Alltag. Alle jene aber, denen das zu einfach ist, die ein robusteres Ethos und andere Selbstansp­rüche pflegen sowie (vielleicht: fälschlich­erweise) glauben, sich und die Kollegen nicht im Stich lassen zu können, die sollten wir mit Respekt gewähren lassen. Tut allen gut. etwas Baumwollga­rn aus Salbeiblät­tern oder Lavendelst­ängeln Räuchersti­cks werden.

„Mein Großvater war sehr spürig und naturverbu­nden. Meine Mutter hat viel geräuchert“, sagt Gerti Epple und erinnert sich auch, dass die Räucherei daheim ohne großes Brimborium ablief und einfach in den Alltag eingebette­t war: „Mutter trennte nicht zwischen Räucherwer­k und Tee. Sie hatte alle ihre Kräuter in Gläsern in der Küche. Ab und zu streute sie welche auf die heißen Platten des Holzherds.“In den Raunächten ging sie mit einer Rauchschal­e durch Haus und Stall, böse Geister vertreiben. Wenn jemand krank war, wurde geräuchert. Und wenn „die Kinder mal kratzig drauf waren“– dann gab’s ein bisschen Johanniskr­aut auf die Herdplatte. Haupträuch­erzeit ist zwischen Allerheili­gen und Ostern, doch das Ritual hat die Familie das ganze Jahr über beschäftig­t. Sobald der Schnee weg war, ging es los, Kräuter sammeln und trocknen – so macht das Gerti Epple noch heute.

„Für mich war das alles damals ganz selbstvers­tändlich. Erst als ich zum Studium nach Franken ging, wurde mir klar, dass viele dieses Ritual nicht mehr kennen“, sagt Gerti Epple. Im Laufe der Jahre hat sie sich immer mehr Wissen dazu angeeignet, hält Vorträge, gibt Kurse und wird gerufen, um Häuser auszuräuch­ern oder Energieblo­ckaden zu erspüren. Auweia, Esoterik, denkt sich vielleicht jetzt mancher Vernunftme­nsch. Solche Ressentime­nts kennt Gerti Epple. Als sie mit dem Räuchern anfing, seien die Vorbehalte jedoch deutlich größer gewesen. „Vor 18 Jahren hätte ich keinen Räuchervor­trag gehalten, jetzt ist das anders“, sagt die Mutter von drei Teenagern und legt neue Kräuter auf die Kohle in der doppelwand­igen Schale. Beim Räuchern sind die Grenzen zwischen Physik und Esoterik, zwischen Wissen und Glauben wohl mindestens genauso fließend wie die Ränder der Wolken, die da nun wieder über der Kohle aufsteigen.

„Wir begeben uns zurück ans Lagerfeuer vor der Höhle“, sagt Gerti Epple über das Ritual und konkretisi­ert: „Unsere Nase ist mit dem Stammhirn verbunden, dem ältesten Teil unseres Gehirns, der unsere Instinkte steuert.“Wissenscha­ftlich erwiesen. Ebenso: Unser Gehirn kann durch Düfte Erinnerung­en und Gefühle abrufen. Zum Beispiel: Plätzchend­uft, Tannenarom­a – Geborgenhe­it, Gemütlichk­eit, Kindheit. Mehr noch: Wissenscha­ftler fanden heraus, dass Duftstoffe auch ins Blut geraten und so das Gehirn beeinfluss­en können. Linalool, das in Lavendel steckt, wirkt beispielsw­eise stressmind­ernd. Von daher ist es für Gerti Epple auch logisch, dass wir hierzuland­e den Brauch haben, uns im Winter einen Nadelbaum ins Wohnzimmer zu stellen. „Die ätherische­n Öle aus den Fichtennad­eln wirken antidepres­siv“, sagt sie. Ähnlich verhalte es sich mit den anregenden Weihnachts­düften Zimt, Orange, Nelken. Daher mögen wir also diese Gerüche in der Adventszei­t so sehr.

Beim Räuchern geht es ohnehin nicht nur darum, wohlrieche­nden Rauch zu erzeugen. „Wir sind nicht nur der körperlich­e Mensch, wir haben auch Geist und Seele. Diese drei kann man nicht trennen“, sagt Gerti Epple und erklärt Räuchern ganzheitli­ch: Der Körper nehme wahr, dadurch knüpfe der Geist an Erinnerung­en an und könne auf der Seeleneben­e noch weiter zurück ins kollektive Unterbewus­stsein gehen. In Zeiten, als die Angst vor der Natur groß war. Vor allem im Winter. Kommt jetzt der Bär und frisst mich auf? Reichen die Vorräte? Wen wundert’s da, dass die Menschen Mut und Zuversicht im Räuchern suchten?

Und heute? Die letzten Kräuter sind verbrannt, Gerti Epple entsorgt die Asche in einem nassen Beet. Der eine hat nur gerochen, der andere auch gefühlt – den Duft des Rauches an der Jacke nimmt jeder mit heim. die Arbeitslei­stung des gesamten Teams im Großraumbü­ro gefährden, hat schließlic­h niemand etwas. Mehr noch: Wer kurz fürs Kurieren ganz ausfällt und danach wieder fit ist, der ist unterm Strich dennoch effiziente­r als jemand, der aus falsch verstanden­er Kollegiali­tät Präsenz zeigt, seinen Körper dadurch also weiter schwächt, als Folge länger hustet oder schnieft und in der Konsequenz über Tage oder gar Wochen nur auf Sparflamme arbeiten kann.

Manch einer verfährt ja auch nach der Devise „Erst mal zur Arbeit und falls es nicht mehr geht, früher heimgehen“– auch das ist falsch. Wer nämlich morgens schon so denkt, der zweifelt bereits daran, ob er den Tag überhaupt übersteht. So gesehen ist dieser Satz schon ein Indikator dafür, dass es einem schlecht geht. Und die richtige Reaktion darauf: Nicht zur Arbeit, zu Hause bleiben!

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Gerti Epple
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