Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Er hat mit 78 noch einen Kiosk eröffnet
In immer mehr Gemeinden verschwinden Geschäfte aus den Ortskernen. Manche ziehen weg, andere schließen ganz. Ein Trend, gegen den sich viele Bürger wehren – so wie Hermann Hartmann
Mering/Waal Was in Mering an Läden fehlt? Eigentlich so ziemlich alles, sagt Hermann Hartmann, zumindest, was den Ortskern der Marktgemeinde im Landkreis Aichach-Friedberg angeht. Viele Dinge gibt es dort nicht mehr zu kaufen, Schuhe beispielsweise oder Kleidung. Übrig geblieben seien vor allem Friseure und Bäckereien, erzählt der 78-Jährige. „Mering leidet unter einem Sterben der Einzelhändler.“Das beobachtet der Rentner schon seit langem – nur zuschauen wollte er aber nicht. Als sich ihm die Chance bot, beschloss er spontan, einen Zeitschriften-Kiosk zu eröffnen.
So drastisch wie Hartmann sieht Karl Grabler die Lage bei weitem nicht. „Natürlich sind viele Geschäfte weggegangen“, sagt der Marktbeauftragte von Mering, dafür seien andere wiederum gekommen. Die Erwartungen der Bürger, ihr Kaufverhalten änderten sich laut Grabler nun einmal und damit auch die Märkte. Aber deswegen gleich von einer Verödung des Ortskerns sprechen? Leer stehen zurzeit lediglich zwei Geschäftsräume, erklärt Grabler. In einem sind er und Hartmann sich aber einig: Beide sprechen von vielen Läden, die zwar aus dem Zentrum weggezogen sind, aber nicht aus der Marktgemeinde mit ihren über 14000 Einwohnern. Sie sind jetzt auf der „grünen Wiese“.
Ein Phänomen, das nicht nur Mering betrifft. In immer mehr Gemeinden verlassen Händler die Ortskerne. Manche ziehen eben nach draußen, an den Rand der Kommune. Weil da eine attraktivere Verkehrsanbindung und mehr Fläche locken – für den Verkaufsraum, das Lager und Parkplätze.
Andere schließen ihre Türen dagegen für immer. Wolfgang Gröll vom Dorfladen-Netzwerk hat schon bei vielen Neugründungen mitgeholfen, hunderte Geschäfte beraten, viele davon auf dem Land. Immer wieder erzählen ihm Bürger, „wie viele Läden früher da waren und dann Schritt für Schritt zugemacht haben“. Schließt der Dorfladen, leiden gerade in Kleingemeinden auch der Metzger und der Bäcker darunter, erklärt Gröll. Denn wenn die Bewohner erst mal in den nächstgrö- ßeren Ort fahren, um Shampoo und Klopapier zu kaufen, nehmen sie dort auch gleich Wurst und Brot mit.
Hermann Hartmann wollte, dass sich die Bewohner des nahe gelegenen Seniorenheims weiterhin ihre Zeitung holen können, wenn sie durch die Meringer Mitte spazieren. Dass die Schulkinder Blöcke, Stifte und Textmarker gleich um die Ecke finden. Genau das drohte wegzufallen, als der Besitzer des Schreibwarenladens Hummel die Straße weiter runter ankündigte, bald in Rente zu gehen. Ohne jemanden in Aussicht, der das Geschäft weiterführt. Spontan entschied Hartmann vor Kurzem: „Dann mach’ ich das.“
Und löste damit ein Problem, das viele Händler neben der Konkurrenz durch das Internet plagt: die Nachfolge. Wie Hartmann stellen sich inzwischen einige Bürger gegen das Ausbluten der Ortskerne. Sie starten Aktionen, um das Zentrum ihrer Heimat wiederzubeleben, gründen zusammen mit der Gemeinde sogar Dorfläden. „Die Bürger wollen sich mit einbringen, sind bereit, Verantwortung zu überneh- men“, sagt Berater Gröll. So auch in der Ostallgäuer Marktgemeinde Waal mit ihren knapp 2400 Einwohnern. Ende 2013 schloss dort der kleine Edeka am Marktplatz, die langjährige Betreiberin war in den Ruhestand gegangen, erzählt Hartmut Gieringer. Zwar blieben der Metzger, der Bäcker und der Naturkostladen, doch was nun fehlte, war ein Geschäft mit breit gefächertem Sortiment. Heute ist Gieringer einer der drei ehrenamtlichen Geschäftsführer des Dorfladens, den es seit mittlerweile über eineinhalb Jahren gibt – genau an der Stelle, wo früher der Edeka war. „Die Mehrheit der Bevölkerung wollte unbedingt, dass der Laden da hinkommt.“
Bis es dazu kam, war es jedoch ein „sehr langer Weg“, blickt der gelernte Kaufmann zurück. Einige Bürger gründeten eine Unternehmensgesellschaft, an der sich bis heute etwas mehr als 300 Menschen beteiligt haben. Das alte Gebäude wurde grundlegend saniert, innen ausgebaut, Regale und erste Produkte angeschafft.
Etwas anders sah es in Mering aus: Hartmann wohnt schon sein Leben lang in dem Haus mit dem Ladenraum. Miete müsse er daher keine zahlen. Dafür hat er sich eine Teilzeitkraft zur Hilfe geholt. Als gelernter Maschinenbauingenieur habe er zwar keine berufliche Erfahrung im Einzelhandel. Aber: „Ich bin in einem Geschäft aufgewachsen, habe also keine Scheu mit Kunden zu reden“, sagt der 78-Jährige und lacht.
Dort, wo heute der Drucker und der Kartenständer stehen, saß sein Großvater früher auf einem Tisch. Rund um sich herum nähte der Schneider Anzüge, während Hartmann als Bub in der Werkstatt herumflitzte. Nebenan verkaufte seine Großmutter Tee, Zucker, Mehl. Dass er einmal die Tradition seiner Großeltern fortführen würde, hätte er dennoch nie gedacht.
Die Waaler Bürger waren einen Laden im Dorf gar nicht mehr gewohnt, erzählt Gieringer. „Sie hatten ihre Einkäufe der Grundnahrungsmittel bereits außerorts organisiert.“Das bekam das Geschäft am Anfang zu spüren. Und heute? „Läuft es wirklich besser“, freut sich Gieringer. Die Dorfbewohner hätten gemerkt: „Nur wenn wir in unserem Laden auch einkaufen, wird er Bestand haben.“
Eine Erfolgsgeschichte, die Wolfgang Gröll hautnah miterlebt hat: Er beriet die Ostallgäuer damals. Und er weiß von einigen Orten in der Region, wo das Projekt Dorfladen ebenfalls geglückt ist – beispielsweise in Niederrieden (Landkreis Unterallgäu), Denklingen (Landkreis Landsberg) und Kellmünz (Landkreis Neu-Ulm).
Wie gut das Geschäft für Hartmann läuft, muss sich noch zeigen, er ist auf jeden Fall optimistisch. Nach und nach hat er sein Sortiment erweitert: etwa um Geschenkartikel, Glückwunschkarten und Spardosen. Das kam bei den Kunden gut an. „Viele Kollegen und Verwandte haben mich gefragt: Mensch, willst du dir das mit 78 wirklich noch antun?“, sagt Hartmann. Aber ihm mache das ja Spaß, mit den Kunden plaudern, durch die Zeitungen blättern und gleichzeitig etwas für seinen Heimatort zu machen.