Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Es ist dasselbe Böse“

Erstmals spricht ein Präsident aus dem Land der Täter beim Gedenken an die Befreiung des KZ Auschwitz vor 75 Jahren

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Jerusalem Fünf Minuten. Mehr Zeit hat Frank-Walter Steinmeier nicht. Fünf Minuten, um sich vor mehr als einer Million Toten im Konzentrat­ionslager Auschwitz zu verneigen und an sechs Millionen ermordete Juden in ganz Europa zu erinnern. Fünf Minuten, um sich zur immerwähre­nden Verantwort­ung seines Landes für die barbarisch­en Taten Nazi-Deutschlan­ds zu bekennen. Fünf Minuten, um der Weltgemein­schaft aufzuzeige­n, welche Lehren Deutschlan­d daraus zieht.

Eine fast unlösbare Aufgabe. Doch das israelisch­e Protokoll ist streng. Nun steht der Bundespräs­ident in der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem. Das Staatsober­haupt aus dem Land der Täter ist ins Land der Opfer gekommen, weil dessen Staatspräs­ident ihn dazu eingeladen hat. Ein Symbol für die Aussöhnung zwischen beiden Staaten, für die Frank-Walter Steinmeier und Reuven Rivlin auch persönlich stehen. Beide sind Freunde. Ein noch stärkeres Signal ist, dass Steinmeier als erstes deutsches Staatsober­haupt in Yad Vashem reden darf.

Steinmeier beginnt die vielleicht wichtigste Rede seiner politische­n

Laufbahn auf Hebräisch mit einem Satz aus dem Alten Testament: „Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.“

In Yad Vashem sprechen zu dürfen, für Steinmeier ist das eine „Gnade“, ein „Geschenk“. Er spricht vom „Wunder der Versöhnung“. Der Bundespräs­ident bekennt sich zur Verantwort­ung der Deutschen für den Holocaust: „Der industriel­le Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheit­sgeschicht­e – es wurde von meinen Landsleute­n begangen.“Er stehe hier als deutscher Präsident, „beladen mit großer historisch­er Schuld“. Doch Steinmeier weiß, dass dieses Schuldbeke­nntnis nicht reicht. 75 Jahre nach dem Holocaust müssen Juden an vielen Orten auf der Welt wieder um ihre Sicherheit bangen – auch in Deutschlan­d.

Mal fliegen Beleidigun­gen, mal Steine gegen sie, vor allem wenn sie Kippa tragen. Schlimmer noch: In Halle hat im Oktober nur die schwere Holztür an der Synagoge das Massaker eines Rechtsterr­oristen, wie Steinmeier ihn nennt, verhindert. „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.“Doch das gehe angesichts dieser Entwicklun­g nicht. Zeit, Worte und Täter seien heute nicht dieselben wie damals, sagt Steinmeier. „Aber es ist dasselbe Böse.“Den rund 50 Staatsund Regierungs­chefs aus aller Welt, die vor ihm sitzen, verspricht der Bundespräs­ident: „Wir bekämpfen den Antisemiti­smus! Wir trotzen dem Gift des Nationalis­mus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels.“

Die Zahl der Zeitzeugen sinkt stetig. 2019 starben nach Angaben des Finanzmini­steriums in Israel rund 14800 Holocaust-Überlebend­e. Im jüdischen Staat leben demnach heute noch rund 192000 Überlebend­e und Opfer antisemiti­scher Übergriffe während des Holocaust.

Wie schauen die Israelis heute auf Deutschlan­d – angesichts der Übergriffe auf Juden, angesichts von Halle? „Die Wahrnehmun­g ist sehr positiv“, sagt die Meinungsfo­rscherin Dahlia Scheidlin im Gespräch mit deutschen Journalist­en. Der Historiker David Witzthum führt das vor allem auf das hohe Ansehen der Kanzlerin zurück. „Angela Merkel ist in Israel viel populärer als in Deutschlan­d.“

In Yad Vashem muss Steinmeier am Donnerstag lange warten. Schon weil Russlands Präsident Wladimir Putin und Israels Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu mit der Einweihung eines Denkmals für die Opfer der Blockade von Leningrad durch deutsche Truppen (September 1941 bis Januar 1944) so lange brauchen, dass sich der Beginn des Holocaust-Forums um eine Stunde verzögert. Und schon Rivlin spricht gut 15 statt der vorhergese­henen fünf Minuten. „Am 27. Januar 1945 wurden die Tore der Hölle geöffnet. Auschwitz wurde befreit“, sagt er. „Wir werden keinen weiteren Holocaust zulassen“, ergänzt anschließe­nd Netanjahu und betont die Fähigkeit seines Landes, sich selbst zu verteidige­n. Zugleich warnt er mit Blick auf den Antisemiti­smus heute: „Was mit Judenhass beginnt, hört mit Judenhass nicht auf.“Auch deshalb sagt Steinmeier später: „Es darf keinen Schlussstr­ich unter das Erinnern geben.“Ulrich Steinkohl und

Sara Lemel, dpa

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Foto: dpa Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Ansprache während des Holocaust-Forums in Jerusalem.

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