Augsburger Allgemeine (Land Nord)
138 Kinogänger und ein Corona-Patient
Eine Spur führt von einem Infizierten aus dem Kreis Göppingen nach Neu-Ulm. Und eine Ärztin berichtet von besorgten Bürgern, die sich in der Augsburger Uniklinik melden
Neu-Ulm Es ist ein ganz normaler Mittwochnachmittag im DietrichTheater in Neu-Ulm. Kinder kaufen Popcorn und Limonade, im Café nebenan türmen sich Pommes frites auf den Tellern und in den Kinosälen laufen Filme wie „Die fantastische Reise des Dr. Dolittle“und „Lassie – Eine abenteuerliche Reise“. „Bad Boys for Life“wird an diesem Tag drei Mal gezeigt. Es ist der Film, den auch ein 25 Jahre alter Mann aus dem Landkreis Göppingen am Samstagabend hier gesehen hat – um 20 Uhr in Saal 8, Sitzreihe 2, Platz 13. Tags darauf bekam er Husten, am Montag Fieber. Inzwischen ist klar: Der Mann ist am Coronavirus erkrankt.
Am Mittwochmittag nennt Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha erste Details zum Fall, später meldet das Gesundheitsamt Neu-Ulm: 137 Menschen saßen mit dem Erkrankten in dem Kinosaal. Jeder, der mindestens 15 Minuten in Gesicht-zu-GesichtKontakt mit dem Erkrankten war, könne sich angesteckt haben. Dieses Risiko trifft nur eine Handvoll Frauen und Männer, betont Behördenleiter Dr. Martin Küfer. Nämlich diejenigen, die direkt neben, vor und hinter dem infizierten 25-Jährigen gesessen sind.
Er selbst, betonte Küfer, hätte keine Bedenken, sich heute auf Platz 13 in Reihe 2 von Saal 8 des Kinos zu Dennoch rät seine Behörde allen, die den gleichen Film wie der Infizierte gesehen haben, in den nächsten zehn Tagen auf Krankheitssymptome wie Fieber, Husten oder Schnupfen zu achten. Wer das an sich bemerkt, soll alle nicht notwendigen Kontakte zu anderen minimieren, seinen Hausarzt und das zuständige Gesundheitsamt anrufen und auf den Filmbesuch hinweisen.
In der Ulmer Uniklinik und den drei Krankenhäusern im Kreis NeuUlm werden derzeit keine CoronaPatienten behandelt, wie Sprecherinnen der beiden Häuser mitteilen. Man sei aber vorbereitet und nehme im Verdachtsfall Tests vor.
Der 25-Jährige aus dem Kreis Göppingen hat sich vermutlich bei einer Reise nach Mailand mit SarsCoV-2 angesteckt und nach seiner Rückkehr grippeähnliche Symptome entwickelt. Er wird in einer Klinik in Göppingen behandelt. Aus dem nahen Tübingen werden zwei neue Fälle gemeldet. Und es gibt einen Zusammenhang zum ersten Fall: Sowohl die Reisebegleitung des 25-Jährigen, eine 24-jährige Frau, als auch ihr Vater sind infiziert. Der 60-Jährige ist Oberarzt im Universitätsklinikum Tübingen. Er soll seit dem Wochenende auch Kontakt zu anderen Medizinern gehabt haben – diese Kontakte seien vollständig erfasst, teilt das Klinikum mit. Vater und Tochter seien in einem guten Zustand.
Am Abend wurde ein weiterer Fall aus Baden-Württemberg gemeldet. Der 32-Jährige aus dem Landkreis Rottweil sei aus dem Risikogebiet in Italien eingereist und habe keine Verbindungen zu den bislang gemeldeten drei Patienten im Südwesten, hieß es. Angesichts der Ausbreitung des Virus in Europa sieht die Bundesregierung eine „neue Situation“. Ein Patient in Nordrhein-Westfalen wurde in der Nacht zum Mittwoch in kritischem Zustand auf die Intensivstation der Uniklinik Düsseldorf gebracht, der 47-Jährige schwebt in Lebensgefahr. Er soll an einer Vorerkrankung leiden. Auch bei seiner Frau, 46, wurde der Erreger Sars-CoV-2 bestätigt. Sie hat als Erzieherin noch bis Freitag gearbeitet.
Dr. Monika Schulze, Leiterin der Stabsstelle Hygiene und Umweltmedizin am Uniklinikum Augsburg, berichtet, dass sich wegen der sprunghaft steigenden Fallzahlen auch an der Augsburger Klinik besorgte Menschen gemeldet haben. „Das Problem ist: Wir haben im Moment auch eine große Grippewelle“, sagt die Oberärztin, die zu der Task Force gehört, die am Uniklinikum wegen des Coronavirus eingerichtet wurde.
Mittlerweile hat das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) eine Hotline eingerichtet. Unter der Nummer 09131/6808-5101 können sich besorgte Bürger beraten lassen. „Natürlich kann man auch zu uns kommen“, betont Schulze. Man solle aber vorher mit dem Hausarzt spresetzen. chen. Der sei die erste Anlaufstelle. Allerdings hätten Hausärzte in ihrer Praxis keine Möglichkeit zu testen, ob ein Mensch am neuartigen Virus erkrankt ist. Dafür sei ein spezielles Laborverfahren nötig. „Wir werden es bei uns im Uniklinikum demnächst zur Verfügung stellen.“Bisher können einige andere Unikliniken, das LGL und die Bundeswehr in München die Tests durchführen. Wenn die Probe richtig genommen wurde, liege das Ergebnis innerhalb eines halben Tages vor.
In Deutschland könnten viele Coronavirus-Ausbrüche zunächst unter dem Radar der Behörden bleiben. Es sei „durchaus möglich, dass wir nicht alle diese Ausbrüche sofort erkennen“, sagt der Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) in Berlin, Lars Schaade. Werden sie schließlich entdeckt, könnten sie schon ein größeres Ausmaß angenommen haben. Dann könnten immer mehr Fälle auftreten, bei denen sich nicht mehr nachverfolgen lässt, welche Kontakte zur Ansteckung führten. Es könne dadurch zu einer weiteren Ausbreitung kommen. Die Strategie der Eindämmung sei dann kaum mehr möglich.
Nach Maßnahmen wie einer Abriegelung betroffener Städte gefragt, sagt Schaade, aus infektionsepidemiologischer Sicht gebe es nicht sehr viel, was dafürspreche. Wichtigster Punkt sei, Kontakte zwischen Gesunden und Kranken zu reduzieren. Das sei auch ohne diesen Schritt möglich.