Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Kleine Inseln der Glückseligkeit
Die Biergärten in Bayern haben wieder geöffnet. Viele genießen in München ein wenig Normalität und die Freiheit unter den Kastanienbäumen. Ist die Gastronomie-Krise damit ein Stück weit überwunden?
München Für den älteren Herrn mit beigem Anorak und Schirmmütze beginnt der Montagvormittag mit einer herben Enttäuschung. Er steht am Eingang des Augustiner-Biergartens in der Arnulfstraße und füllt gerade das Formular aus, das Voraussetzung ist, um die Fläche unter den stolzen Kastanienbäumen betreten zu dürfen. Nur wenige Meter entfernt sitzen schon ein paar Menschen verteilt an mehreren Tischen. Der Mann wird den Biergarten nicht betreten. Weil er seine Telefonnummer nicht weiß, wie er sagt. Am Tag der bayernweiten Biergarteneröffnungen scheitert er kurz vor dem Ziel an ein paar Zahlen. „Aber wir freuen uns, wenn Sie das nächste Mal kommen“, ruft die Bedienung dem Mann hinterher, der vor sich hingrantelnd schon wieder das Weite sucht.
Die Telefonnummer ist Teil des Tauschgeschäfts, das Biergartenbesucher in ganz Bayern seit Montag eingehen müssen: Daten gegen die Freiheit, die ein Aufenthalt im Biergarten bedeutet. Jeder muss informiert werden können für den Fall, dass ein Infektionsfall bekannt wird. Biergarten is watching you, der Biergarten hat ein Auge auf dich. Doch es herrscht Biergartenwetter im Wortsinn: Die Sonne hüllt ganz München in ein klares, warmes Licht, ein paar Vögel zwitschern. Ein Tag, prädestiniert, um in den Biergarten zu gehen. Von einem Ansturm auf die begehrten Plätze, wie man ihn vom Oktoberfest kennt, ist man an diesem Montagvormittag zwar weit entfernt. Die roten Abstandsmarkierungen auf dem Gehweg vor dem Eingang („Vorsicht, Glas!“) sind mehr Dekoration als Abstandshilfe. Doch einige wenige haben den vertrauten Weg in den Biergarten dann doch gefunden.
Wenn die Neuankömmlinge ihre Namen und Nummern angegeben haben, begleitet sie eine Bedienung an die vorgesehenen Plätze. Der Anblick ist ungewohnt: Wo sich sonst tausende Menschen eng beieinander tummeln, ist gerade einmal ein Viertel der Tische übrig geblieben. Auf den Gängen muss eine Maske getragen, am Tisch darf sie abgenommen werden. Jeder, der das tut, scheint erleichtert aufzuatmen. Die runden Holztische werden kleine Inseln der Glückseligkeit: Die Menschen stoßen miteinander an, reden mal bayrisch, mal englisch und lachen viel. In Gestalt von flatternden Absperrbändern, Mundschutzmasken und Desinfektionssprays ist Corona so nah – und gleichzeitig doch so fern. Die Krüge klirren, der Kies knirscht. Die Welt ist wieder ein bisschen normaler, ein bisserl bayerischer.
Die meisten Biergartenbesucher sind männlich und trinken Bier. Manche kommen in kleinen Gruppen, andere sind allein und genießen nur die Szenerie. „Darauf habe ich mich am meisten gefreut in dieser Corona-Zeit“, sagt ein älterer Herr Anfang 70, der alleine an einem
Tisch sitzt. Er ist gebürtiger Münchner, erzählt er, wohnt jetzt aber bei Rosenheim und ist wegen der Biergarten-Eröffnung mit dem Zug eigens in die Landeshauptstadt gefahren. „Ich gehöre selbst zur gefährdeten Gruppe und weiß, dass man das Infektionsrisiko außer Haus nie ganz ausschließen kann“, sagt er. „Für das hier nehme ich die Reise aber gerne in Kauf.“Er zeigt auf einen Tischnachbarn, der eine Einweg-Maske über seinen Glaskrug gespannt hat und die vermummte Maß vergnügt fotografiert. „So ein Anblick ist doch großartig, oder?“
Ortswechsel von einem der größten zu einem der kleineren Biergärten Münchens: dem Atzinger, einen
Steinwurf von der Ludwig-Maximilians-Universität entfernt. Die Abstände zu halten ist jetzt, kurz nach 13 Uhr, kein Problem. Rund ein dutzend Gäste sitzen in dem kleinen, schattigen Innenhof. Uni-Dozent Walther Michel beißt in seinen Spinatknödel und freut sich, wieder in einem Biergarten zu sitzen. „Das ewige To-go-Essen wird mit der Zeit schon ziemlich fad“, sagt der 35-Jährige. Die Biergarten-Öffnungen seien ein Highlight nach vielen verzichtreichen Corona-Wochen. „Dieses Wetter, das Grün, die gemütliche Atmosphäre in einem Biergarten – das macht viel von der Lebensqualität in München aus. Biergärten sind Kulturträger.“
Darüber hinwegtäuschen, dass das Coronavirus diesen Kulturträgern mächtig zugesetzt hat, können die Biergarten-Öffnungen am Montag allerdings nicht. Die Maßnahmen haben allein in Münchens Gastronomie nun auch schon ein prominentes Opfer gefordert: Das Traditionswirtshaus Paulaner im Tal ist insolvent und muss schließen. Das berichtet die Süddeutsche Zeitung. „Ja, so ist es, ich hab’ keine Gäste mehr, ich hab’ kein Geld mehr, kein Garnix“, sagte Wirt Putzi Holenia der Zeitung. Wie es nun weitergehe, sei unklar: „Da wär’ ich Jesus, wenn ich das wüsste. Wir werden das jetzt halt abwickeln.“Das Wirtshaus besteht in München seit 1524.