Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Pfeilschüs­se aus Angst vor den „Hells Angels“

Ein 35-Jähriger aus Nordendorf verletzte im Verfolgung­swahn zwei völlig ahnungslos­e Passanten. Er gilt als schuldunfä­hig und soll in die Psychiatri­e eingewiese­n werden. Das Verfahren dauert sechs Tage

- VON KLAUS UTZNI

Ein 35-Jähriger aus Nordendorf verletzte im August 2019 zwei Passanten. Nun begann der Prozess in Augsburg.

Nordendorf Die Pfeile sind 25 bis 70 Zentimeter lang, bestehen aus einem Carbon-Schaft und einer Metallspit­ze. Abgefeuert werden sie mit einem Druckluftg­erät, das aussieht wie ein Gewehr. Sie haben enorme Durchschla­gskraft und – so ist die Staatsanwa­ltschaft überzeugt: Diese Pfeile können auch töten.

Am 28. August vergangene­n Jahres, 12 Uhr mittags, wurden zwei Männer – ein Lkw-Fahrer und ein Handwerker – in Nordendorf wie aus heiterem Himmel von je einem dieser Druckluftp­feile getroffen. Zum Glück erlitten sie keine lebensgefä­hrlichen Verletzung­en. Der Mann, der die beiden Passanten unvermitte­lt angriff, steht seit gestern wegen versuchten Mordes vor dem Augsburger Schwurgeri­cht. Er kann am Ende nicht bestraft werden, da er zur Tatzeit unter Verfolgung­swahn litt und als schuldunfä­hig gilt. Der 35-Jährige wird voraussich­tlich auf Dauer in die Psychiatri­e eingewiese­n.

Markus K. (Name geändert), Brille, groß gewachsen, Bauchansat­z, die dunklen Haare nach vorne in die Stirn gekämmt, hat ein jungenhaft­es Gesicht. Nach der Tat saß er eine Woche lang im Gefängnis München-Stadelheim, danach wurde er in das Bezirkskra­nkenhaus Günzburg verlegt. In einem sogenannte­n Unterbring­ungsverfah­ren vor der 8. Strafkamme­r des Landgerich­ts unter Vorsitz von Susanne Riedel-Mitterwies­er lässt Markus K. zuerst seinen Verteidige­r Walter Rubach sprechen. Eine Erklärung, in der er sich entschuldi­gt und die Taten bedauert. Dann schildert er selbst dem Gericht, von welchen Gefühlen und Eindrücken er offenbar jahrelang geplagt war, wie sich seine Ängste immer mehr steigerten, wie er Stimmen hörte und er dann am Tattag glaubte, Mitglieder des Rockerclub­s „Hells Angels“wollten ihn töten. Wie er die Kontrolle verlor und dann auf die beiden Passanten schoss, die er für potenziell­e Angreifer hielt.

Weiten Raum in der Gedankenwe­lt des Software-Spezialist­en nehmen Erlebnisse im Augsburger Nachtleben ein, die er noch heute für real hält. In den Clubs wähnte er Menschenhä­ndler, die merkwürdig­e Zeichen gaben, junge Frauen mit K.-o.-Tropfen willenlos machten, aus den Lokalen führten und zur Prostituti­on zwangen. Er habe einmal, so erzählt Markus K., sich eine Flasche mit Bier schnappen können, diese dann in Wien untersuche­n lassen. „Darin waren diese K.-o.Tropfen“, behauptet er. Später sei er dann Mitglieder­n der „Hells Angels“vorgestell­t worden, Leuten, „die böse blickten“, hinter denen er die Organisier­te Kriminalit­ät vermutete. Markus K. war irgendwann auch überzeugt, „fremdbesti­mmt“zu sein. In den Tagen vor der PfeilAttac­ke steigerten sich seine Ängste. Er hörte Stimmen im Kopf, brachte zurücklieg­ende geheimnisv­olle Ereignisse wie den Zusammenbr­uch der Stromverso­rgung in seinem Haus auf einen bald bevorstehe­nden tödlichen Angriff gegen ihn in Verbindung.

Weil er sich bedroht fühlte, stattete er das Haus, in dem er lebte, mit einer teuren Alarmanlag­e und zahlreiche­n Überwachun­gskameras aus. Und er machte sich im Internet kundig, welche Waffen man „für den Notfall“legal kaufen kann. So erstand er zwei Armbrüste und mehrere der Druckluftp­istolen, die nicht unter das Waffengese­tz fallen. Im Garten übte er, schoss die Pfeile auf eine Schaumstof­f-Zielscheib­e. „Ich war von diesen Geräten fasziniert, über die Gefährlich­keit habe ich mir keine Gedanken gemacht“, räumt Markus K. ein.

Am Tattag, so schildert der 35-Jährige, habe er starke Schmerzen im Kieferbere­ich gehabt, Medikament­e und Kokain genommen. Die Stimmen, die er wieder in seinem Kopf vernahm, hätten sich gesteigert. Er habe geglaubt, jetzt kämen die „Hells Angels“, die Kampfmasch­inen, und würden ihn töten. „Jetzt bist du dran“, habe ihm eine Stimme gesagt. Als er draußen den Lkw sah, habe er einen Angriff vermutet. „Ich geriet in Panik und wusste mir nicht mehr zu helfen“. Vom Balkon aus schoss er einen Pfeil ab, der in den Rahmen oberhalb der Fahrerkabi­ne eindrang. Ein zweiter Pfeil ließ die Scheibe platzen. Der polnische Fahrer einer sächsische­n Spedition, der kurz zuvor bei einem Handwerksb­etrieb Fensterrah­men abgeliefer­t und gerade sein Navi neu programmie­rt hatte, verließ das Führerhaus. In diesem Augenblick war Markus K. mit zwei Druckluftw­affen auf die Straße gegangen, um unter der Plane des Lkw nach möglichen weiteren Angreifern zu suchen. „Ich sah den Mann, wie er auf mich zielte. Ich drehte mich weg, da traf mich ein Pfeil, der in der linken Schulter stecken blieb. Es war wie ein Schlag, dann wurden die Schmerzen immer stärker“, schildert der 49-jährige Pole dem Gericht. In Todesangst flüchtete er sich in einen Nachbarsga­rten. Der 49-Jährige war sechs Tage in der Uniklinik, sechs Wochen arbeitsunf­ähig.

Kurz darauf kam der ebenfalls völlig ahnungslos­e Handwerker, 40, mit seinem Kastenwage­n angefahren, dem die Fensterrah­men geliefert worden waren. Er bemerkte die kaputte Scheibe des Lkw, stieg aus. „Ich sah auf dem Balkon jemand in einem grünen T-Shirt stehen. Dann spürte ich einen Schlag, fühlte warmes Blut am Mund und sah einen Pfeil auf dem Grünstreif­en liegen.“Das Geschoss hatte die Unterlippe des Handwerker­s durchschla­gen. Das Opfer wurde fünf Tage im Krankenhau­s behandelt. Der 40-Jährige, begleitet von seinem

Anwalt Rüdiger Prestel, leidet immer noch unter den Folgen der Pfeilattac­ke. Weil Nerven durchtrenn­t wurden, hat er im Mundbereic­h kein Gefühl mehr. Eine Narbe verdeckt er jetzt mit einem Bart. Den Tatort meidet er. Insgesamt schoss Markus K. wohl sechs Pfeile ab. Staatsanwa­lt Michael Nißl wirft dem Beschuldig­ten zweifachen Mordversuc­h und gefährlich­e Körperverl­etzung vor. Das Verfahren ist auf sechs Verhandlun­gstage terminiert und wird am 17. Juli fortgesetz­t.

 ?? Archivfoto: Marcus Merk ?? Großeinsat­z der Polizei in einem friedliche­n Wohngebiet im August 2019: Der Pfeilschüt­ze von Nordendorf steht nun in Augsburg vor Gericht.
Archivfoto: Marcus Merk Großeinsat­z der Polizei in einem friedliche­n Wohngebiet im August 2019: Der Pfeilschüt­ze von Nordendorf steht nun in Augsburg vor Gericht.

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