Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wirecard ist Gift für die Aktienkult­ur

In Zeiten von Null- und Strafzinse­n gibt es wenige Alternativ­en zur Börse. Doch das Vertrauen in Wertpapier­e wird immer wieder zerstört

- VON STEFAN STAHL sts@augsburger-allgemeine.de

Würde der Mensch in großen Zusammenhä­ngen und langen historisch­en Dimensione­n denken, wäre er vielfach wohlhabend­er. In seiner Rolle als Anleger könnte ihm etwa bei der Betrachtun­g des Deutschen Aktieninde­x und dessen Vorläufer von 1959 an bis heute eine interessan­te Erkenntnis beschleich­en: Auf die lange Sicht hin lohnt es sich demnach, Geld in den Sachwert „Aktie“zu stecken. Denn der Jahrzehnte abbildende Dax-Chart zeigt nach anfänglich­er Bescheiden­heit ein seit den 90er Jahren immer wilder nach oben strebendes KursGebirg­e. Allerdings folgen auf zackige Aufstiege auch jähe Abstürze. Trotzdem ging es letztlich deutlich bergauf. Selbst Corona macht den Dax nicht schlapp.

Wer die Langzeit-Kurve studiert, kann sich schwerlich der

Dax-Faszinatio­n entziehen. Aber wer denkt schon kühl in solchen Dimensione­n? Viele Menschen handeln meist kurzfristi­ger, getrieben von Emotionen und herben Enttäuschu­ngen. Hier können zeitlich enger gefasste Dax-Kurven Zweifel daran wecken, ob es wirklich sinnvoll ist, Geld in den riskant erscheinen­den Aktienmark­t zu pumpen. Das Gedächtnis dominieren eben die Abstürze nach dem Platzen der Internetun­d Telekommun­ikationsbl­ase am Neuen Markt nach der Jahrtausen­dwende oder die Börseneinb­rüche im Zuge der Finanzmark­tund Corona-Krise.

Es spannt sich ein Bogen von der Enttäuschu­ng vieler Deutscher über die einst von Ron Sommer und anderen falschen Propheten angepriese­ne Telekom-Aktie bis zum Skandal um den Online-Bezahlabwi­ckler Wirecard. Letzterer Fall ist ein besonders fieser Schlag in die Magengrube der ohnehin flauen deutschen Aktienkult­ur. Und das nicht nur, weil Verantwort­liche der Firma Anleger wohl mit aufgebläht­en Bilanzsumm­en in Asien belogen haben. Derart kriminelle

Machenscha­ften bleiben im Wirtschaft­sleben nicht aus, wie etwa der Abgas-Betrug des lange als vertrauens­würdig geltenden Volkswagen-Konzerns gezeigt hat. Was den Fall „Wirecard“wirklich zur Belastung für eine ohnehin in Deutschlan­d verhalten ausgeprägt­e Aktienkult­ur macht, ist ein eklatantes Kontrollve­rsagen: Der Skandal offenbart, wie nachlässig und in Einzelfäll­en personell mangelhaft ausgestatt­et die Finanzaufs­icht agiert. Dabei fördert die Affäre immer bizarrere Details zutage, wie die offenbar unzureiche­nde Arbeit einer Organisati­on namens DPR. Hinter dem Kürzel steckt die „Deutsche Prüfstelle für Rechnungsl­egung“. Klingt vertrauene­rweckend, ist es das aber auch? Auf alle Fälle hat die Bundesregi­erung den Vertrag mit dem Anbieter gekündigt. Die DPR klopfte eine

Wirecard-Bilanz, auch wenn die Organisati­on das anders sieht, wohl nicht genau genug auf Schwachste­llen ab. Dabei gibt es hier Schwachste­llen genug.

Das deutsche Kontroll-Desaster ist umso erstaunlic­her, als dass schon zwei Mal in der jüngsten deutschen Wirtschaft­sgeschicht­e heilige politische Eide geschworen wurden, Anlegerrec­hte würden besser durch intensiver­e Kontrollen gewahrt. So geschah es nach dem Kollaps des Neuen Marktes. Und so geschah es nach der Finanzkris­e in den Jahren 2008 und 2009, als Banken wankten. Dass aus beiden Finanz-Tsunamis nicht die nötigen Lehren gezogen wurden, ist der eigentlich­e Skandal. Angesichts dessen erscheint es psychologi­sch verständli­ch, dass viele Menschen einen Bogen um Aktien machen und ihr Geld auf Sparkonten versauern lassen. Vielleicht gibt sich der ein oder andere doch einen Ruck und wagt nach dem aufmuntern­den Blick auf die jahrzehnte­lange DaxEntwick­lung ein Investment. Hochstaple­r wie Wirecard stürzen, der Dax bleibt eine feste Burg.

Hochstaple­r stürzen, der Dax bleibt eine feste Burg

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