Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wirecard ist Gift für die Aktienkultur
In Zeiten von Null- und Strafzinsen gibt es wenige Alternativen zur Börse. Doch das Vertrauen in Wertpapiere wird immer wieder zerstört
Würde der Mensch in großen Zusammenhängen und langen historischen Dimensionen denken, wäre er vielfach wohlhabender. In seiner Rolle als Anleger könnte ihm etwa bei der Betrachtung des Deutschen Aktienindex und dessen Vorläufer von 1959 an bis heute eine interessante Erkenntnis beschleichen: Auf die lange Sicht hin lohnt es sich demnach, Geld in den Sachwert „Aktie“zu stecken. Denn der Jahrzehnte abbildende Dax-Chart zeigt nach anfänglicher Bescheidenheit ein seit den 90er Jahren immer wilder nach oben strebendes KursGebirge. Allerdings folgen auf zackige Aufstiege auch jähe Abstürze. Trotzdem ging es letztlich deutlich bergauf. Selbst Corona macht den Dax nicht schlapp.
Wer die Langzeit-Kurve studiert, kann sich schwerlich der
Dax-Faszination entziehen. Aber wer denkt schon kühl in solchen Dimensionen? Viele Menschen handeln meist kurzfristiger, getrieben von Emotionen und herben Enttäuschungen. Hier können zeitlich enger gefasste Dax-Kurven Zweifel daran wecken, ob es wirklich sinnvoll ist, Geld in den riskant erscheinenden Aktienmarkt zu pumpen. Das Gedächtnis dominieren eben die Abstürze nach dem Platzen der Internetund Telekommunikationsblase am Neuen Markt nach der Jahrtausendwende oder die Börseneinbrüche im Zuge der Finanzmarktund Corona-Krise.
Es spannt sich ein Bogen von der Enttäuschung vieler Deutscher über die einst von Ron Sommer und anderen falschen Propheten angepriesene Telekom-Aktie bis zum Skandal um den Online-Bezahlabwickler Wirecard. Letzterer Fall ist ein besonders fieser Schlag in die Magengrube der ohnehin flauen deutschen Aktienkultur. Und das nicht nur, weil Verantwortliche der Firma Anleger wohl mit aufgeblähten Bilanzsummen in Asien belogen haben. Derart kriminelle
Machenschaften bleiben im Wirtschaftsleben nicht aus, wie etwa der Abgas-Betrug des lange als vertrauenswürdig geltenden Volkswagen-Konzerns gezeigt hat. Was den Fall „Wirecard“wirklich zur Belastung für eine ohnehin in Deutschland verhalten ausgeprägte Aktienkultur macht, ist ein eklatantes Kontrollversagen: Der Skandal offenbart, wie nachlässig und in Einzelfällen personell mangelhaft ausgestattet die Finanzaufsicht agiert. Dabei fördert die Affäre immer bizarrere Details zutage, wie die offenbar unzureichende Arbeit einer Organisation namens DPR. Hinter dem Kürzel steckt die „Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung“. Klingt vertrauenerweckend, ist es das aber auch? Auf alle Fälle hat die Bundesregierung den Vertrag mit dem Anbieter gekündigt. Die DPR klopfte eine
Wirecard-Bilanz, auch wenn die Organisation das anders sieht, wohl nicht genau genug auf Schwachstellen ab. Dabei gibt es hier Schwachstellen genug.
Das deutsche Kontroll-Desaster ist umso erstaunlicher, als dass schon zwei Mal in der jüngsten deutschen Wirtschaftsgeschichte heilige politische Eide geschworen wurden, Anlegerrechte würden besser durch intensivere Kontrollen gewahrt. So geschah es nach dem Kollaps des Neuen Marktes. Und so geschah es nach der Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009, als Banken wankten. Dass aus beiden Finanz-Tsunamis nicht die nötigen Lehren gezogen wurden, ist der eigentliche Skandal. Angesichts dessen erscheint es psychologisch verständlich, dass viele Menschen einen Bogen um Aktien machen und ihr Geld auf Sparkonten versauern lassen. Vielleicht gibt sich der ein oder andere doch einen Ruck und wagt nach dem aufmunternden Blick auf die jahrzehntelange DaxEntwicklung ein Investment. Hochstapler wie Wirecard stürzen, der Dax bleibt eine feste Burg.
Hochstapler stürzen, der Dax bleibt eine feste Burg