Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Suche nach einem Dach über dem Kopf

Georgine Greppmair lebt mit ihrer Tochter Heidemarie und deren Kindern in einer Wohnung. Nicht freiwillig. Und bald müssen sie ausziehen, denn das Gebäude wird abgerissen. Wohin sie können, wissen die beiden noch nicht

- VON JONAS VOSS

Was ist eine Wohnung? Eine Wohnung ist ein Ort zum Zurückzieh­en und Ganz-bei-sich-sein. Ein Platz, bis unters Dach vollgestop­ft mit Erinnerung­en, ein Schutzraum in all den Stürmen, die das Leben auf einen loslässt. Wenn Georgine Greppmair von ihrer Wohnung erzählt, werden ihre rauchblaue­n Augen glasig. Hier ist ihre Mutter gestorben, hier hat sie ihren Vater gepflegt, hier wohnt sie nun mit ihrer Tochter Heidemarie Alt. Bald aber sitzt sie ein letztes Mal im ersten Stock neben dem Kachelofen. Ihre Wohnung wird abgerissen.

27 Jahre haben die Eltern Greppmairs in dem alten Bauernhaus gewohnt, ehe die heute 66-Jährige dort 2008 nach dem Tod ihrer Mutter einzog, um den Vater zu pflegen. Dass es nicht mehr den aktuellen baulichen Standards entspricht, sieht man. Die Eigentümer­familie hat deswegen beschlosse­n, das Haus samt angeschlos­senem Stadel abzureißen. Neue Wohnungen sollen hier entstehen, ist dem Schriftver­kehr zwischen Greppmair und den Vermietern zu entnehmen. Weil die Wohnung „stark sanierungs­bedürftig“sei, habe sie, so schreibt die Eigentümer­familie, abwägen müssen, ob eine Sanierung oder ein Abriss wirtschaft­licher seien. Architekte­n hätten letztlich aufgrund der erforderli­chen Arbeiten zu Abriss und Neubau geraten. Greppmair sagt, sie habe Widerspruc­h eingelegt, jedoch vergebens. Ursprüngli­ch hätten sie und ihre Tochter zum 31. Juli ausziehen müssen, die Eigentümer gewähren ihnen vorraussic­htlich zwei Monate Aufschub.

Denn Mutter und Tochter finden keine Wohnung. Sie hätten sich sowohl an die städtische Wohnbaugru­ppe (WBG) als auch an die für den Landkreis Augsburg zuständige gewandt, an das Wohnungs- und Stiftungsa­mt, an das Sozialrefe­rat und an private Vermieter, sagen die beiden Frauen. Bisher nur freundlich­e Absagen und das Verspreche­n, weiterhin auf der Warteliste zu stehen. „Uns geht es beschissen“, sagen sie unumwunden. Netter wollen sie es nicht mehr ausdrücken.

Ohne finanziell­e Unterstütz­ung können sich Mutter und Tochter keine Wohnung in Augsburg leisten. Die Miete in ihrer jetzigen Wohnung kann die Mutter noch stemmen. Laut den Eigentümer­n haben sie diese seit über zehn Jahren nicht mehr erhöht, auch bei der Nebenkoste­nabrechnun­g seien sie stets großzügig. Sie wüssten um den angespannt­en Wohnungsma­rkt in der Stadt – jedoch sei die Situation, so wie sie jetzt ist, wirtschaft­lich nicht mehr tragbar. Im Gespräch merkt man: Das Tischtuch zwischen Mieterin und Vermietern ist zerschnitt­en. Beide Seiten reden wohl nicht mehr wirklich miteinande­r.

Georgine Greppmair hat in ihrem Leben viele Berufe gehabt: Sie war Reinigungs­fachkraft, Briefzuste­llerin, Wäscherei- und Fabrikarbe­iterin. Seit Januar bezieht sie eine kleine Rente, die sie sich mit dem Austragen von Zeitungen aufbessert. Tochter Heidemarie Alt hat nie eine Ausbildung gemacht. Die 46-Jähri

hat zwei Kinder und sagt, sie sei Hausfrau. Nach der Trennung vom Vater der Kinder zog sie 2018 wieder nach Augsburg, 2019 schließlic­h in die Wohnung der Mutter. Zehn Jahre wohnte sie nicht in der Stadt – und das ist nun ein Problem: Das Wohnungs- und Stiftungsa­mt erklärte der 46-Jährigen in einer Mail, seit 2016 gebe es für Wohnungsan­träge mit sozialer Dringlichk­eit ein Punktesyst­em. In diesem System gibt es sogenannte Ortsanwese­nheitspunk­te. Je länger ein Antragstel­ler in einer Kommune lebt, desto mehr Punkte erhält er. Alt hat zu wenig Punkte, um einen Vermittlun­gsvorschla­g zu erhalten. Die 46-Jährige erzählt weiter, bei der WBG stehe sie seit circa einem Jahr auf der Warteliste.

Die Sprecherin der WBG erklärt, 2019 seien dort 4760 Wohnungsin­teressente­n neu erfasst worden. Interessen­ten für 470 vermietete Wohnungen, also rund zehn pro Wohnung. 343 Wohnungen baut die WBG aktuell, 234 davon sollen kommendes Jahr fertig sein. Alle derzeit im Bau befindlich­en Wohnungen unterliege­n der Einkommens­orientiert­en Förderung (EoF). Dieses Förderprog­ramm schließt Arbeitssuc­hende oder Menschen mit geringer Rente explizit ein. Förderbere­chtigte Einkommens­stufen reichen vom Transferle­istungsemp­fänger bis zur 4-köpfige Familie mit einem Haushaltse­inkommen von über 80 000 Euro brutto.

Davon sind Greppmair und ihre Tochter weit entfernt. Bei Besichtige gungen geben sie sich mit anderen die Klinke in die Hand. „Ich höre von Bekannten“, erzählt Greppmair, „dass auch sie nur nach langer Wartezeit etwas finden konnten.“Das Sozialrefe­rat der Stadt kann aufgrund von Datenschut­z keine spezifisch­e Auskunft zum Fall der beiden Frauen geben. In solchen Fällen sei es aber üblich, erklärt man dort, dass das Wohnbüro, die Armutspräv­ention, beziehungs­weise das Team Wohnrauman­gelegenhei­ten, einen Weg suchen.

Greppmair sagt, sie blicke jeden Tag auf das Handy mit der Hoffnung auf eine erlösende Nachricht. Und sollte sie demnächst eine Wohnung finden und ihre Tochter nicht, wolle sie anfragen, ob diese miteinzieh­en dürfe. Vorerst.

 ?? Foto: Jonas Voss ?? Georgine Greppmair und ihre Tochter Heidemarie wohnen derzeit zusammen. Allerdings nicht freiwillig – Mutter und Tochter finden einfach keine Wohnung in Augsburg, die sie sich leisten können. Mit diesem Problem sind sie bei Weitem nicht alleine.
Foto: Jonas Voss Georgine Greppmair und ihre Tochter Heidemarie wohnen derzeit zusammen. Allerdings nicht freiwillig – Mutter und Tochter finden einfach keine Wohnung in Augsburg, die sie sich leisten können. Mit diesem Problem sind sie bei Weitem nicht alleine.

Newspapers in German

Newspapers from Germany