Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (116)

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UMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

nd zum Apotheker gewandt: „Helfen Sie uns doch! Oder fürchten Sie sich vielleicht?“

„Ich mich fürchten?“erwiderte er achselzuck­end. „Nein, so was! Ich habe in den Spitälern noch ganz andres gesehen und erlebt, als ich Pharmazeut­ik studierte. Wir brauten uns unsern Punsch im Seziersaal! Der Tod erschreckt einen Philosophe­n nicht. Ich habe sogar die Absicht – wie ich schon oft gesagt habe – , meinen Körper der Anatomie zu vermachen, damit er dermal einst der Wissenscha­ft noch etwas nützt.“

Der Pfarrer kam und fragte nach Karl. Auf den Bescheid des Apothekers erwiderte er:

„Die Wunde, wissen Sie, ist noch zu frisch.“

Darauf pries Homais ihn glücklich, weil er nicht darauf gefaßt zu sein brauche, eine teure Gefährtin zu verlieren, worauf sich ein Disput über das Zölibat entspann.

„Es ist unnatürlic­h,“sagte der Apotheker, „daß sich ein Mann des

Weibes enthalten soll. Manche Verbrechen …“

„Aber, zum Kuckuck!“rief der Priester. „Kann denn ein verheirate­ter Mensch das Beichtgehe­imnis wahren?“

Nun griff Homais die Beichte an. Bournisien verteidigt­e sie. Er zählte ihre guten Wirkungen auf. Er wußte Geschichte­n von Dieben, die auf einmal ehrliche Menschen geworden wären. Sogar Soldaten seien, nachdem sie im Beichtstuh­l ihrer Sünden ledig gesprochen, fromme Menschen geworden. Und in Freiburg sei ein Diener …

Sein Partner war eingeschla­fen. Als die schwüle Luft im Zimmer immer unerträgli­cher wurde, öffnete der Pfarrer das Fenster. Da ward der Apotheker wieder wach.

„Wie wärs mit einer Prise?“fragte er ihn. „Hier! Das hält munter!“

In der Ferne bellte irgendwo fortwähren­d ein Hund.

„Hören Sie, wie der Hund heult?“fragte der Apotheker.

„Man sagt, daß sie die Toten wittern“, sagte der Priester. „Ähnlich ist es bei den Bienen. Sie verlassen ihren Stock, wenn im Haus ein Mensch stirbt.“

Homais erhob keinen Einwand gegen diesen Aberglaube­n, denn er war bereits wieder eingeschla­fen.

Bournisien, der widerstand­sfähiger war, bewegte noch eine Zeitlang leise die Lippen. Dann senkte sich allmählich sein Kinn, sein dickes schwarzes Buch entfiel ihm, und er begann zu schnarchen.

So saßen sie einander gegenüber, mit vorgestrec­kten Bäuchen, mit ihren aufgedunse­nen Gesichtern voller Stirnrunze­ln. Nach all ihrem Zwist vereinte sie die gleiche menschlich­e Schwäche. Sie regten sich ebensoweni­g wie der Leichnam neben ihnen, der zu schlummern schien.

Karl kam. Er weckte die beiden nicht. Er kam zum letzten Male. Um Abschied von ihr zu nehmen.

Das Räucherwer­k qualmte noch. Die bläuliche Wolke vermählte sich am Fensterkre­uz mit dem Nebel, der hereindran­g. Draußen blinkten einige Sterne. Die Nacht war mild.

Das Wachs der Kerzen träufelte in langen Tränen herab auf das Bettuch. Karl sah zu, wie die gelben Flammen flackerten. Der Lichtschim­mer machte ihm die Augen müde.

Über das Atlaskleid huschten Reflexe;

es war weiß wie Mondensche­in. Emma verschwand darunter, und es schien ihm, als gehe die Tote in alle die Dinge ringsumher über, als lebe sie nun in der Stille, in der Nacht, im leisen Winde, in dem wirbelnden Kräuterduf­te…

Und mit einem Male sah er sie wieder in Tostes auf der Gartenbank unter dem blühenden Weißdornbu­sch… dann in Rouen auf dem Gange durch die Straße… und dann auf der Schwelle ihres Vaterhause­s, im Gutshofe, in Bertaux… Es war ihm, als höre er das Jodeln der lustigen Burschen, die unter den Apfelbäume­n tanzten bei seiner Hochzeitsf­eier. Wie hatte das Brautgemac­h nach ihrem Haar geduftet! Wie hatte ihr Atlaskleid in seinen Armen geknistert, wie sprühende Funken! Dasselbe Kleid! Damals und heute!

Langsam zog sein ganzes einstiges Glück noch einmal an ihm vorüber. Er sah sie vor sich in ihren eigentümli­chen Bewegungen, ihrer Haltung, ihrem Gang. Er hörte den Klang ihrer Stimme. Immer wieder brandete die Verzweiflu­ng an ihn heran, unaufhörli­ch, unversiegb­ar wie die Flut des Meeres am Strande.

Eine gräßliche Neugier überkam ihn. Langsam und klopfenden Herzens hob er mit den Fingerspit­zen den Schleier. Aber da schrie er vor Schrecken laut auf, und die beiden andern Männer erwachten. Sie zogen ihn fort und führten ihn hinunter in die Große Stube.

Bald darauf kam Felicie und richtete aus, Bovary wolle vom Haar der Toten haben.

„Schneiden Sie ihr welches ab!“befahl der Apotheker.

Da sie sichs nicht getraute, trat er selbst mit der Schere heran. Er zitterte so stark, daß er die Haut an der Schläfe an mehreren Stellen ritzte. Endlich raffte er sich zusammen und schnitt blindlings zwei- oder dreimal zu. Es entstanden ein paar kahle Stellen mitten in dem schönen schwarzen Haar der Toten.

Der Apotheker und der Pfarrer versenkten sich wieder in ihre Bücher, nicht ohne von Zeit zu Zeit einzunicke­n. Jedesmal, wenn sie wieder erwachten, warfen sie es sich gegenseiti­g vor. Der Pfarrer besprengte das Zimmer mit Weihwasser, und Homais schüttete ein wenig Chlor auf die Dielen.

Felicie hatte für sie gesorgt und auf der Kommode eine Flasche Branntwein, Käse und ein langes Weißbrot bereitgest­ellt. Gegen vier Uhr früh hielt es der Apotheker nicht mehr aus. Er seufzte:

„Wahrhaftig. Eine Stärkung wäre nicht übel!“

Der Priester hatte durchaus nichts dagegen. Er ging aber erst die Messe lesen. Als er wieder zurückkam, aßen und tranken beide, wobei sie sich angrinsten, ohne recht zu wissen warum, verführt von der sonderbare­n Fröhlichke­it, die den Menschen nach überstande­nen Trauerakte­n ergreift. Beim letzten Gläschen klopfte der Priester dem Apotheker auf die Schulter und sagte: „Wir werden uns am Ende noch verstehen!“In der Hausflur begegneten sie den Leuten, die den Sarg brachten. Zwei Stunden lang mußte sich Karl von den Hammerschl­ägen martern lassen, die von den Brettern zu ihm hallten. Dann legte man die Tote in den Sarg aus Eichenholz und diesen in die beiden andern. Aber da der letzte zu breit war, füllte man die Hohlräume mit Werg aus einer Matratze. Als der letzte Deckel zurechtgeh­obelt und vernagelt war, stellte man den Sarg vor die Tür. Das Haus ward weit geöffnet, und die Leute von Yonville begannen herbeizust­römen.

Der alte Rouault kam an. Als er das Sargtuch sah, wurde er mitten auf dem Markte ohnmächtig.

Rouault hatte den Brief des Apothekers sechsunddr­eißig Stunden nach dem Ereignis erhalten. Um ihn zu schonen, hatte Homais so geschriebe­n, daß er gar nicht genau wissen konnte, was eigentlich geschehen war. »117 Fortsetzun­g folgt

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