Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Da ist Franz irre geworden“
Der ehemalige Nationalstürmer Karl-Heinz Riedle erinnert sich an den Titelgewinn mit Deutschland 1990 in Italien und einen impulsiven Teamchef Beckenbauer
Und, Herr Riedle, schon Knabbereien und lecker Rotwein besorgt für eine Notte magica, eine magische Nacht, am Mittwoch? Da wird doch sicher Gianna Nannini die WM-Hymne trällern und eine alte VHS-Videokassette von 1990 eingelegt, oder?
Karl-Heinz Riedle: Oh, nein, eher nicht. So nostalgisch veranlagt bin ich dann doch nicht.
Wie jetzt? 30 Jahre Fußball-Weltmeister muss doch irgendwie gefeiert werden.
Riedle: Wollten wir ja auch. Lothar (Matthäus, Anm. d. Red.) hatte doch schon vor Monaten alles organisiert. Er hat alle zusammengetrommelt. Wir wollten nach Rom fliegen und dort einige Tage verbringen. Aber Corona hat das leider verhindert. Jetzt habe ich gehört, dass Andy Brehme vielleicht am Wochenende was Kleineres in München macht. Aber Genaues weiß ich noch nicht.
Schließen Sie bitte kurz die Augen. Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an die WM 1990 denken?
Riedle: Ich lass die Augen lieber auf. Wenn ich sehe, wie wir heute alle aussehen und mir die Bilder von damals in Erinnerung rufe, dann denke ich mir schon: Mensch, die 30 Jahre sind ja wie im Flug an einem vorbeigezogen. Und man muss jeden Tag genießen. Es geht alles so schnell …
Sie sind ja inzwischen zweifacher Großvater. Hat Opa Riedle denn seinen Enkelkindern schon mal erzählt, dass er Fußball-Weltmeister ist? Riedle: Nein, wenn überhaupt dann weiß es der Große (Luis, 7 Jahre, Anm. der Red.) von seinen Eltern. Der kleine Jamie ist mit knapp zwei Jahren noch zu jung für solche Geschichten. Luis ist ein total begeisterter Fußballer, aber er weiß glaub’ gar nicht, dass ich auch mal gekickt habe.
Noch einmal der Versuch mit dem Augen-Schließen: 1990 in Italien … Riedle: Ja, Italien war damals der absolute Nabel der Fußball-Welt. Alle internationalen Topspieler haben in der Serie A gespielt. Diese WM war schon was ganz Besonderes. Wir hatten doch unser WM-Quartier am Comer See. Ja, ich erinnere mich noch genau an die Busfahrten zu den Spielen nach Mailand. Wie auf der Autobahn ganz viele deutsche Fans an uns vorbeigefahren sind und gehupt haben. Durch die Grenznähe und die vier ersten Spiele in Mailand war es ja wie eine Heim-WM für uns. Diese Stimmung hat uns durch das Turnier getragen.
Ihre Rolle war von vornherein klar definiert: Hinter Jürgen Klinsmann und Rudi Völler waren Sie unter Franz Beckenbauer die Nummer drei im Angriff.
Riedle: Ja, und man darf nicht vergessen: Ich hatte gerade mal drei Jahre für Werder Bremen gespielt und wurde von Franz Beckenbauer ja erst im August 1988 erstmals in die Nationalmannschaft berufen. Ich gehörte zu den Jungen und musste mich hinten anstellen. Aber die klare Hierarchie war für mich die größte Stärke dieser 90er-Mannschaft.
Und doch bekamen Sie Ihre Einsätze bei dieser WM.
Riedle: Ja, im letzten Gruppenspiel gegen die Vereinigten Arabischen Emirate wurde ich eingewechselt, ebenso beim 2:1 im Achtelfinale gegen Holland. Das war die Partie, bei der Rudi Völler von Frank Rijkaard bespuckt wurde und zu allem Übel auch noch Rot sah. Ich durfte Rudi dann im Viertelfinale gegen die Tschechen ersetzen.
Ihr großer Moment kam dann im Halbfinale gegen England.
Riedle: Rudi war da wieder gesetzt. Aber er war angeschlagen. Das war ein heißes Match gegen die Engländer. Andy Brehme hat uns in Führung gebracht, Gary Lineker hat ausgeglichen. Nach 120 Minuten stand’s 1:1. Wir mussten ins Elfmeterschießen.
Wo’s drum ging, Verantwortung zu übernehmen …
Riedle: Als der Franz seine Schützen gesucht hat, sind schon einige abgetaucht. Dann geht der Franz zu Jürgen Kohler und ich dachte mir, bevor jetzt ein Vorstopper schießt, mach’ lieber ich das. Ich habe gesagt: „Okay, Franz, ich schieß’.“Er wusste in diesem Moment aber glaub’ nicht, dass ich zuvor noch nie einen Elfmeter geschossen habe …
Nicht Ihr Ernst?
Riedle: Doch. Das ist kein Witz. Ich hatte zwar in der Jugend mal Elfmeter geschossen, aber noch nie in einem Profispiel. Das war der erste …
Hatten Sie nicht richtig Bammel? Riedle: Nein, ich war mir ziemlich sicher, dass ich den verwandle. Erst recht, als ich den englischen Torhüter Peter Shilton zweimal fliegen gesehen habe – bei Andy und bei Lothar. Shilton war fast 40 und nicht mehr die allerschnellste Katze. Mein Schuss war aber auch schwer zu halten. Ich hab’ rechts oben Richtung Winkel geschossen …
… und damit für die Vorentscheidung gesorgt. Für die nächsten beiden englischen Schützen, Stuart Pearce und Chris Waddle, war der Druck zu groß. Beide vergaben – und Deutschland stand im Finale.
Riedle: Bei dem ich dann aber keine Minute Spielzeit bekommen habe. Auch Olaf Thon übrigens nicht, der ein überragendes Halbfinale gespielt hat. Aber uns war klar, dass wir uns für den Erfolg unterordnen mussten. Keiner hat aufgemuckt. Auch wenn’s abgedroschen klingt, aber wir waren echt wie eine Familie.
Und Teamchef Franz Beckenbauer war der Vater.
Riedle: Einer, der übrigens auch ganz schön impulsiv sein konnte. Da sind schon mal ein paar Gegenstände durch die Kabine geflogen. Aber Franz war ein grandioser Trainer – allein von seinem Werdegang her war er die absolute Respektsperson. Er konnte es nur nicht ertragen, wenn einer schlampig zuspielte oder einen Ball nicht ordentlich stoppen konnte. Da ist Franz irre geworden.
Er hat die Spieler aber schon auch an der langen Leine gelassen, oder? Riedle: Ja, auf jeden Fall. Er wusste, dass er die älteren und erfahrenen Spieler nicht kasernieren darf. Wir haben schon unsere Freiheiten bekommen. Mal sind wir Tret- oder Motorboot auf dem Comer See gefahren, mal durften die Spielerfrauen ins Quartier. Und wir haben, da könnt’ ich die Augen noch mal kurz schließen, nach gewonnenen Spielen in diesem großen Saal des Castello di Casiglio bis spät in die Nacht gefeiert. Ganz gediegen – mit super Essen und gutem Rotwein. Das war, wenn ich es auch mit der EM zwei Jahre später in Schweden oder mit der WM 1994 in Amerika vergleiche, schon etwas ganz Spezielles. Danach war alles viel abgekühlter …
Sie haben den Champions-League-Titel 1997 mit Borussia Dortmund mal über den WM-Triumph gestellt. Warum?
Riedle: Natürlich ist der WM-Titel das Größte, das ein Spieler erreichen kann. Aber wenn du in dem einen Finale keine Sekunde Einsatz hast, dann ist das vom Gefühl her etwas anderes, als wenn man einen großen Beitrag leistet. Und ’97 beim Champions-League-Finale in München sind mir zwei Tore gelungen. Wir waren mit Dortmund ganz oben. Grundsätzlich sind beide Titel gleich wertvoll. Wer hätte denn damals, als ich in Ellhofen und Weiler gekickt habe, gedacht, dass es für mich zwei solche Titel geben würde.
Was war bei all den Erfolgen Ihr Tiefpunkt mit der Nationalmannschaft? Riedle: Zwei Jahre später die Europameisterschaft in Schweden. Das war für mich der einzige Wermutstropfen, denn mit dieser Mannschaft um Berti Vogts war der Titel schon irgendwie eingeplant. Nur, den haben wir im Finale gegen Dänemark mit 0:2 sauber vergeigt. Da schüttel’ ich heute noch den Kopf.
Die Nationalmannschaft ist durch Corona ja überhaupt nicht mehr im Blickfeld. Haben die Jungs von Jogi Löw das Zeug, bei der nächsten WM wieder um den Titel mitzuspielen? Riedle: Schwer zu sagen. Die Dominanz der letzten Jahre ist vorbei, die anderen haben aufgeholt. Und doch glaube ich, dass, ähnlich wie vor dem Titel 2014 mit Mesut Özil und Toni Kroos, jetzt mit Kai Havertz und Leroy Sané wieder eine Generation heranwächst, die was richtig Großes erreichen kann. Auch ein Leon Goretzka hat bei Bayern gezeigt, wie stark er im Defensivverhalten ist. Ich denke schon, dass die Nationalmannschaft wieder in Schlagdistanz zu den ganz großen Nationen sein wird. Ob’s aber schon zu einem großen Titel reicht? Hmmm.
Wir müssen noch einen kleinen Abstecher zu Ihren Ex-Klubs nach Liverpool und Dortmund machen … Riedle: Was Jürgen Klopp mit Liverpool geschafft hat, ist der Wahnsinn. Mich hat es so geärgert, dass die große Meisterfeier wegen Corona ausfallen musste. Die Stadt hätte sicher gebrannt. Da wäre ich auf jeden Fall dabei gewesen. Aber mich freut es für den Klub, der jahrelang ein schlafender Riese war. Und mich freut’s für Kloppo, der wie geschaffen ist für diesen Verein. Er hat all die Kritiker Lügen gestraft, die gemeint haben, sein Stil passe nicht zur Premier League. Ich bin gespannt, ob er da noch länger bleibt, oder ob er vielleicht mal Jogi Löw als Bundestrainer ablösen will. Die Erfolge in Liverpool und all die Emotionen sind ja nicht mehr zu toppen.
Und noch zum BVB, für den Sie immer noch als Markenbotschafter tätig sind …
Riedle: Coronabedingt beschränkt sich mein Job da gerade auf ein paar Videogespräche und die Kontaktpflege mit Sponsoren in Indien und Japan. Ich bin recht zuversichtlich, dass der BVB nächste Saison wieder eine gute Rolle spielen wird. So weit weg waren sie von den Bayern nicht. Ich denke, es wäre schon mal an der Zeit, dass auch mal wieder ein anderer Verein deutscher Meister wird. Der Liga würde das nur guttun.
Interview: Thomas Weiß
● Karl-Heinz Riedle, heute 54 Jahre alt, wuchs in Weiler-Simmerberg im Westallgäu auf. Seine größten Erfolge waren der WM-Titel 1990 und der Champions-LeagueSieg 1997 mit Borussia Dortmund. Heute ist er BVB-Markenbotschafter und betreibt ein Hotel und eine Fußballschule in Oberstaufen.