Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wie die Polizei Corona-Daten nutzt
Allein in Bayern zog die Polizei mindestens zehnmal Gästelisten aus Restaurants heran, um zu ermitteln. In anderen Ländern sind sie dagegen tabu. Ist das Vorgehen legal?
Augsburg Bayerns Innenminister Joachim Herrmann kann den Ärger um die Nutzung von Corona-Gästelisten in Restaurants für Polizeiermittlungen nicht nachvollziehehen. „Die Polizei geht in einem Wirtshaus einem Mordversuch nach und sucht Zeugen“, sagte der CSU-Politiker auf Nachfrage den Nürnberger Nachrichten, „nach Auffassung von FDP und Grünen sollte sie den Täter lieber laufen lassen, anstatt die Gästedaten beizuziehen, um den Täter zu ermitteln oder Gäste ausfindig zu machen, die etwas gesehen haben könnten“. Dies sei „völlig absurd“.
Bayernweit nutzt die Polizei die Gästedaten aus Restaurants, die eigentlich dazu dienen sollten, um Corona-Infektionsketten nachzuvollziehen. Das ergaben Recherchen unserer Redaktion sowie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur. Bereits Anfang des Monats hatten wir berichtet, dass die Augsburger Polizei die Kontaktdaten für die Ermittlungen einer Straftat herangezogen hatte. Inzwischen ist klar: Innerhalb des Freistaats war das kein Einzelfall. Tatsächlich ging die Polizei in gleich mehreren Regierungsbezirken so vor.
Die Polizei in München nennt drei Fälle, in denen Gästedaten für Ermittlungen genutzt wurden. Beim Polizeipräsidium Oberbayern Süd war dies zweimal der Fall, in Mittelfranken einmal. Auch in Schwaben und den angrenzenden Gebieten sind nun weitere Fälle bekannt geworden. Und inzwischen ist auch die Frage beantwortet, warum die Polizei in Augsburg die Kontaktdaten angefragt hatte. Zunächst hatte der Pressesprecher des Präsidiums Schwaben Nord, Michael Jakob, darauf verwiesen, dass man aus „ermittlungstaktischen Gründen“keine genaueren Angaben machen könne. Nun teilt er mit, dass es sich dabei „um ein Diebstahlsdelikt in einer Augsburger Gaststätte“gehandelt habe. „Allerdings erfolgte vonseiten der Polizei keine Einsichtnahme in die Gästeliste sowie keine Aufzeichnung der Daten.“Der Lokalbetreiber sei lediglich dazu angehalten worden, die Gästeliste aufzubewahren, falls diese benötigt werden sollte. Dies sei bislang noch nicht der Fall gewesen.
Eine Zweckentfremdung liege dabei aus Sicht der Polizei nicht vor. Zwar dürfen die Daten laut Bayerischem Landesamt für Datenschutz „ausschließlich auf Anforderung des Gesundheitsamtes zur Nachverfolgung möglicher Infektionsketten weitergegeben“werden. Die Polizei beruft sich jedoch auf die Strafprozessordnung. „Es wäre sicherlich keinem Opfer verständlich zu machen, dass die Polizei auf die rechtmäßige Nutzung derartiger Daten verzichtet und die Tat deshalb ungeklärt bleiben muss“, sagt Polizeisprecher Jakob.
Der erste Fall, der bundesweit Aufsehen erregt hatte, war in Hamburg bekannt geworden. Dort hatte die Polizei nach einem Vorfall vor einem Restaurant die Daten genutzt, um Zeugen zu suchen. Wie in Hamburg zieht auch in Schwaben die Polizei die Kontaktdaten nicht ausschließlich dazu heran, um einen Täter zu ermitteln. Im Allgäu etwa läuft aktuell die Suche nach dem vermissten Felipe Caycedo-Soler aus Ulm, der zuletzt am 23. Juni auf einer Bergtour gesehen wurde. Die
Polizei Oberstdorf habe sich erhofft, Informationen von den Gästen der Hütte zu erhalten, die auf der potenziellen Route des Vermissten lag. So schildert es Holger Stabik, der Sprecher des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West in Kempten. Mithilfe der Angaben habe man das Suchgebiet eingrenzen wollen, „die Namenserhebung diente also der Abwehr von Gefahren für Leib und Leben“, schreibt Stabik. Allerdings habe die Datenerhebung für die Vermisstensuche keine weiterführenden Hinweise erbracht.
„Da geht es natürlich um das Leben eines Menschen“, sagt Thomas Petri, der bayerische Beauftragte für Datenschutz, angesprochen auf die Ermittlungen im Allgäu. Einschätzungen zu Einzelfällen möchte er aktuell nicht abgeben, grundsätzlich sei eine Weitergabe der Kontaktdaten an die Polizei nach wie vor nicht vorgesehen. Nun fordert er eine bundesweite gesetzliche Regelung, um zu klären, unter welchen Voraussetzungen die Polizei auf Angaben zugreifen dürfe. Bisher sei dies unklar. Die Gästedaten werden auf Basis des Infektionsschutzgesetzes erfasst, „eine Regelung auf Zweckbindung für Strafverfolgungsbehörden gibt es nicht“, sagt er. Das derzeitige Vorgehen gehe in Richtung Vorratsdatenspeicherung, für die „ziemlich strenge Vorgaben“herrschten und auf die der Europäische Gerichtshof Wert gelegt hatte, als er die Zulässigkeit geprüft hatte. „Doch das wird offenbar gerade nicht konsequent durchgezogen“, kritisiert er.
Kritik kommt von der Opposition im Bayerischen Landtag. „Wenn die Menschen nicht darauf vertrauen können, dass ihre Daten ausschließlich der Verfolgung von Infektionsketten dienen, werden sie künftig unter falschem Namen einchecken. Oder sie werden von Gaststättenbesuchen
absehen“, sagt der FDPFraktionsvorsitzende Martin Hagen. „Gästedaten müssen tabu sein. Das muss gesetzlich klargestellt werden.“
Bayern scheint mit den Daten besonders offensiv umzugehen. Nachfragen bei den Polizeipräsidien Saarbrücken und Köln etwa ergaben keine Treffer, die Südwest-Presse zitiert zudem den Sprecher des baden-württembergischen Innenministeriums mit den Worten: „Das Nutzen von Gästelisten durch die Polizei ist in Baden-Württemberg nicht zulässig.“Dem bayerischen Justizministerium zufolge dürfen die Strafverfolgungsbehörden hingegen „grundsätzlich alle Daten sicherstellen oder beschlagnahmen und für Zwecke der Strafverfolgung verwenden“, erklärt Pressesprecherin Ulrike Roider. Bedingung dafür sei, dass „ein Anfangsverdacht für eine Straftat besteht und die Daten für die Aufklärung dieser Straftat von Relevanz sein können“.
Genau das erhofft sich die Polizei Ingolstadt. Wie Nadine Hofmann vom Polizeipräsidium Oberbayern Nord mitteilt, hat die Polizei dort die Gästedaten in einem Internetcafé fotografiert. In diesem war kurz zuvor ein Mann erschossen worden. Bisher sei allerdings noch unklar, ob die so erfassten Daten bei den Ermittlungen tatsächlich genutzt werden, sagt Hofmann.
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