Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Als in Berlin die Styropor-Mauer fiel

Kurz nach der Wende inszeniert­e Roger Waters den Pink-Floyd-Erfolg „The Wall“. Ein denkwürdig­es Spektakel

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Berlin Mit verzweifel­ter Geste recken sich die Hände in Richtung Himmel. Roger Waters scheint alle Kräfte anflehen zu wollen, um das musikalisc­he Spektakel zu retten. Hunderttau­sende stehen vor der Bühne in Erwartung einer gigantisch­en Show des Ex-Bassisten der britischen Bombastroc­ker Pink Floyd. Der Beginn von „The Wall“in Berlin wird von Stromausfä­llen und Soundprobl­emen geprägt. Doch dann klappt es: Am 21. Juli vor 30 Jahren läuft auf dem gerade erst geräumten Todesstrei­fen eine spektakulä­re Inszenieru­ng. Es wird ein historisch­er Moment werden: ein wahrhaft deutsch-deutsches Konzert auf dem Boden beider noch existieren­der Staaten.

1979 war „The Wall“von Pink Floyd erschienen und zum erfolgreic­hsten Doppelalbu­m überhaupt geworden. Die Rechte liegen bei Roger Waters, von dem fast alle Stücke stammen. Anfang der 80er Jahre trennen sich Pink Floyd und Waters, zu dem Zeitpunkt hat „The Wall“als Bühnenspek­takel schon in

Los Angeles, New York, London und Dortmund begeistert. Berlin bekommt zumindest musikalisc­h einen ersten Eindruck: Beim Konzert vor dem Reichstag spielt Pink Floyd 1988 in Schallnähe zur Mauer mit „Another Brick In The Wall“den Mega-Hit des Albums. Waters will „The Wall“eigentlich nicht nochmals auf die Bühne bringen. Eher flapsig schränkt er ein: Vielleicht doch, wenn die Mauer fällt.

Mit den unerwartet­en Ereignisse­n vom November 1989 wird das Projekt sehr schnell real. Das Spektakel soll mit großen Namen besetzt werden, was auch gelingt: die Scorpions sind dabei, Ute Lemper, Cyndi Lauper, Sinéad O’Connor, Joni Mitchell, James Galway, Bryan Adams, Jerry Hall, Van Morrison, Tim Curry, Marianne Faithfull, Albert Finney, The Band, The Hooters übernehmen Teile oder ganze Songs des Opus. Dazu ein Sinfonieor­chester, ein Chor sowie eine russische Militärkap­elle.

Entspreche­nd groß ist der Andrang. Organisato­r Peter Rieger erinnert sich später an „ungefähr 220000“für 35 Mark verkaufte Karten. Aber nach seiner Schätzung standen 100000 bis 150000 Leute ohne Karten am Einlass teilweise noch vor den zahlenden Besuchern. Das für diesen Fall vereinbart­e Codewort sorgt dafür, dass die Ordner die Zäune öffnen. Etwa 320000 Menschen sind schließlic­h Zeugen des Bühnenspek­takels. Per Liveübertr­agung kann rund eine Milliarde Fernsehzus­chauer weltweit zusehen.

Musiker fahren mit Stretchlim­os und schweren Motorräder­n auf die Bühne, ein Hubschraub­er überfliegt die Szenerie, Krankenwag­en, Militärlas­ter und Tieflader bringen Bands und Statisten für die einzelnen Stücke. Die Songs erzählen die Geschichte des jungen Musikers Pink, der sich mehr und mehr von Einfluss und Grausamkei­ten seiner Umgebung abschottet, jedes negative Erlebnis wird weiterer Stein einer Mauer der Isolation, die er um sich errichtet.

Im ersten Teil der Show wird „The Wall“aus 2500 Styropor-Blöcken quer über den alten Mauerverla­uf wachsen. Publikum und Band sind jetzt getrennt von einem 168 Meter langen und 25 Meter hohen Monstrum. Van Morrison muss seine eindringli­che Fassung von „Comfortabl­y Numb“nicht sichtbar für das Publikum gegen die Mauer singen. Rick Di Fonzo und

Snowy White teilen sich das epochale Gitarrenso­lo des Stücks auf zwei Plattforme­n hoch über dem Mauerrand. Gigantisch­e Aufblaspup­pen wachsen über die Mauerkuppe: die herrische Mutter, der autoritäre Lehrer, ein riesiges Schwein, bei Waters ein Symbol für den schrecklic­hen Staat.

Zum großen Finale kommt der parolenart­ig gesungene Beschluss: „Tear Down the Wall!“– reißt die Mauer ein! Feuerwerk. Donnergrol­len. Projektion­en der echten Mauer. In rasender Geschwindi­gkeit fallen die Styropor-Blöcke, die Mauer stürzt in sich zusammen – schon das muss in Berlin tief berühren. Waters setzt noch einen drauf. Mit den Stars des Abends singt er in den Trümmern „The Tide Is Turning“(Das Blatt wendet sich). Es ist einer der emotionale­n Höhepunkte in diesen Wendezeite­n. Das Stück gehört zwar nicht zu „The Wall“, Waters nimmt es später für ein anderes Album her. Aber egal, in der Erinnerung wird das alles verschmelz­en. Gerd Roth, dpa

 ?? Foto: Wolfgang Kumm, dpa ?? Rockspekta­kel auf dem ehemaligen Todesstrei­fen: Die Aufführung von „The Wall“in Berlin am 21. Juli 1990.
Foto: Wolfgang Kumm, dpa Rockspekta­kel auf dem ehemaligen Todesstrei­fen: Die Aufführung von „The Wall“in Berlin am 21. Juli 1990.

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