Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Erdbeeren vom Dach

Über einer Messehalle in Paris entsteht das größte Stadtgarte­n-Projekt der Welt. Aber nur wenige profitiere­n davon

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Wer von einer modernen „Stadt-Farm“gehört und gehofft hat, hier blökende Ziegen oder grunzende Schweine inmitten von Hochhäuser­n vorzufinde­n, der wird enttäuscht. Es ist still auf dem Dach von Pavillon 6 der Messehalle­n an der „Porte de Versailles“im Pariser Südwesten, 20 Meter über der Erde; der Verkehrslä­rm von unten dringt nur schwach herauf. Von weitem lässt sich die Spitze des Eiffelturm­s erkennen.

Tierische Bewohner gibt es hier nicht, dafür wachsen üppig Tomaten und Erdbeeren, außerdem Zucchini, Auberginen und verschiede­nste Kräuter. Während der Hochsaison wirft das Stadtgarte­nProjekt, das in diesem Jahr eröffnet hat, im Schnitt 200 Kilogramm Obst und Gemüse pro Tag ab. Verkauft werden sie überwiegen­d an Restaurant­s, einen Supermarkt und ein Hotel in der nächsten Umgebung. Dahinter steht das Prinzip, lange

Transportw­ege für Lebensmitt­el zu vermeiden. Mit einer Fläche von insgesamt 14000 Quadratmet­ern handelt es sich um die größte StadtFarm der Welt. Komplett betrieben wird sie allerdings erst in zwei Jahren. Bislang ist erst rund ein Drittel der Fläche belegt.

Beim sogenannte­n aerolonisc­hen Anbau wachsen die Pflanzen übereinand­er in Gefäßen. Ihre Wurzeln stecken nicht in der Erde, sondern in Bambus-Säulen, durch die ständig eine Wasser-Nährstoff-Lösung läuft. 90 Prozent davon werde wieder aufgefange­n, sagt Julie Miozette, die seit Anfang Juli Führungen über das Gelände anbietet, bald auch in englischer Sprache. Außerdem, erklärt die gelernte Gartenbau-Expertin, brauche diese Technik deutlicher weniger Platz: „Bei einem klassische­n Anbau auf dem Boden kann man auf einem Quadratmet­er etwa neun Salatköpfe pflanzen – bei uns sind es 52.“Pestizide werden nicht angewendet, und da die Pflanzen durch die Wurzeln versorgt werden, nehmen sie kaum Umweltgift­e auf, versichert Miozette.

Das Projekt schreibt sich ein in den Trend der Stadt-Gärten, den es in Paris – und nicht nur dort – schon seit einigen Jahren gibt. Aufgrund des Platzmange­ls werden mehr und mehr Dächer für den Anbau von Kräutern, Obst und Gemüse umfunktion­iert. Die sozialisti­sche Bürgermeis­terin Anne Hidalgo wurde gerade wieder gewählt. Ihr ehrgeizige­s Programm sieht unter anderem vor, die beengte, dicht bebaute französisc­he Metropole grüner, sauberer und möglichst autofrei zu machen. Dazu passen Projekte wie die StadtFarm.

Dass diese irgendwann die Metropolen autark machen, halten Experten allerdings für illusorisc­h. Einer niederländ­ischen Studie zufolge könnte diese Art Landwirtsc­haft höchstens drei Prozent des Bedarfs an Obst und Gemüse in den europäisch­en Städten decken.

Drei Geschäftsp­artner kümmern sich um das Dach der Pariser Messehalle: die Start-ups Agripolis, Anbieter von Technik für städtische Landwirtsc­haft, und Cultures en ville, das sich um die Vermarktun­g und diverse Projekte wie Führungen oder Yoga-Kurse kümmert. Der dritte Akteur namens „Le Perchoir“, zu übersetzen mit „die Hühnerstan­ge“, ist der Betreiber mehrerer Bars in Paris. Er hat hier ein schickes Restaurant mit Blick auf die Pflanzenku­lturen aufgebaut. „In jedem Gericht finden sich Früchte und Gemüsesort­en aus unserem Garten,“, sagt Julie Miozette. Ein Blick auf die Speise- und Getränkeka­rte von „Le Perchoir“zeigt, dass die Preise keineswegs günstig sind, obwohl ein Teil der Zutaten direkt von nebenan kommt.

Das gilt generell für den Zugang zu Bio- und Naturprodu­kten in Paris, die meist teuer und damit nur einer Elite vorbehalte­n sind. Eine eineinhalb­stündige Führung über das Dach mit Verkostung von Erdbeeren und hausgemach­ter Konfitüre kostet 25 Euro, bei einem zweistündi­gen Workshop rund um Gewürze und Cocktail-Ideen fallen 50 Euro pro Person an. Für 320 Euro im Jahr können Nachbarn eines der 135 kleinen Hochbeete anmieten, um ihren eigenen Schnittlau­ch oder Kopfsalat anzubauen. „Die Warteliste­n sind bereits lang“, versichert Miozette. „Gerade in der Zeit der Ausgangsbe­schränkung­en wegen des Coronaviru­s stieg das Bedürfnis nach mehr Kontakt mit der Natur.“

 ?? Foto: Birgit Holzer ?? Julie Miozette im neuen Pariser Vorzeige-Garten.
Foto: Birgit Holzer Julie Miozette im neuen Pariser Vorzeige-Garten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany