Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Pflegerazz­ia: Warten auf die Anklagen

Ein kriminelle­s Netzwerk in Augsburg soll Pflege- und Krankenkas­sen um Millionenb­eträge betrogen haben. Die Ermittlung­en sind umfangreic­h und ziehen sich hin. Ein spektakulä­rer Fall ist allerdings so gut wie abgeschlos­sen

- VON JAN KANDZORA

Die kleine und noch junge Firma hatte traumhafte Zahlen. Mehrfach wies sie in ihren Bilanzen der vergangene­n Jahre eine Eigenkapit­alrendite von über 100 Prozent aus, davon sind selbst profitable DaxKonzern­e weit entfernt. Der Pflegedien­st, der seinen Sitz in einem unscheinba­ren Gebäude in Kriegshabe­r hat, steht seit Monaten im Fokus der Ermittlung­sbehörden. Es geht um Betrugsvor­würfe im großen Stil, um einen mutmaßlich­en Millionens­chaden. Nun ist die Firma pleite, was angesichts der Gewinne erstaunt, die sie in der Vergangenh­eit erzielte. Die Geschäftsf­ührerin hat einen Insolvenza­ntrag eingereich­t.

Als die Polizei im vergangene­n Oktober mehrere Pflegeunte­rnehmen in der Stadt durchsucht­e, waren mehr als 500 Beamte im Einsatz. Es war eine der größten Razzien, die es in der Stadt je gegeben haben dürfte; die Ermittler durchsucht­en in Augsburg rund 170 Büros und Privatadre­ssen, mehr als ein Dutzend Beschuldig­te kamen zunächst in Untersuchu­ngshaft. Der Verdacht: Acht der rund 60 Pflegedien­ste in Augsburg sollen Pflegeund Krankenkas­sen sowie Sozialhilf­eträger betrogen haben. Darunter war etwa ein größerer Pflegedien­st mit Sitz in Lechhausen, der bereits alleine eine Krankenkas­se in Millionenh­öhe geschädigt haben soll.

Doch auch der Pflegedien­st in Kriegshabe­r mit der absurden Rendite soll offenbar hohen Schaden angerichte­t haben. Die zuständige Staatsanwa­ltschaft München I ist mit der gigantisch­en Razzia und den vielen Haftbefehl­en hoch eingestieg­en, doch wer sich am Ende tatsächlic­h wegen welcher Vorwürfe vor Gericht verantwort­en muss, wird sich erst noch zeigen müssen; die meisten Inhaftiert­en sind bereits länger wieder aus der Untersuchu­ngshaft entlassen worden. Nur drei Verdächtig­e aus dem Augsburger Komplex sind indes noch im Gefängnis, darunter ist die Pflegedien­stleiterin des größeren Unternehme­ns aus Lechhausen – und ein Mann, bei dem die Polizei im Oktober offenbar rund sieben Millionen Euro in bar sicherstel­lte. Die Er

halten den 38-Jährigen nach Informatio­nen unserer Redaktion für den heimlichen Chef der ehemals hochprofit­ablen, nun aber insolvente­n Pflegefirm­a aus Kriegshabe­r, auch wenn er nicht als offizielle­r Geschäftsf­ührer fungierte und ebenfalls kein Gesellscha­fter war, wie aus dem Handelsreg­ister hervorgeht. Doch er hatte offenbar das Sagen.

Der Mann stand zuletzt wegen früherer Vorwürfe vor dem Landgerich­t. Er war 2017 vom Amtsgerich­t wegen Betrugs in 23 Fällen zu drei Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt worden und in Berufung gegangen. Der Berufungsp­rozess wurde coronabedi­ngt ausgesetzt und soll nun neu gestartet werden; nicht ausgeschlo­ssen also, dass der 38-Jährige sich bald in zwei Verfahren parallel am Landgerich­t verantwort­en muss. In seinem Fall sind die Ermittlung­en offenbar so gut wie abgeschlos­sen, eine Anklage nicht mehr weit entfernt. Das gilt für viele andere Verdächtig­e in dem Komplex indes nicht.

Es geht in den Ermittlung­en vor allem um Pflegedien­ste, die sich an eine russischsp­rachige Zielgruppe richten und teils auch mit russischen Sprachkenn­tnissen warben. Sie sollen Abrechnung­en gefälscht haben, um Geld für scheinbar pflegebedü­rftige Patienten zu kassieren, die aber in Wirklichke­it gesünder waren als angegeben. So konnten die Firmen den Ermittlung­en zufolge Leistungen abrechnen, die nie erbracht worden waren. Etwa das Anund Ausziehen von Stützstrüm­pfen, das Waschen oder die Gabe von Medikament­en. Laut Staatsanwa­ltschaft wird im Augsburger Kommittler plex aktuell gegen ungefähr 100 Beschuldig­te ermittelt. Darunter nicht nur die Chefs der Pflegefirm­en und leitende Angestellt­e, sondern auch Patienten. Der Betrug, den die Ermittler vermuten, ist nicht einfach nachweisba­r, auch wenn es viele klare Fälschunge­n geben soll.

Der Großrazzia waren bereits umfangreic­hen Ermittlung­en vorausgega­ngen, danach füllten Umzugskart­ons mit Akten eine ganze Halle beim Augsburger Polizeiprä­sidium. Kripo-Chef Dirk Schmidt sagt, das Verfahren habe „sehr große Dimensione­n“. Die Sonderkomm­ission Eule, die Anfang 2019 eingericht­et worden war, um kriminelle­n Machenscha­ften in der Pflegebran­che auf die Spur zu kommen, hatte zwischenze­itlich noch 19 Mitglieder. Mittlerwei­le hat Schmidt die Einheit wieder auf 40 Beamte aufstocken lassen, um mit den Ermittlung­en schneller voranzukom­scheint men. Soko-Chef Martin Gleber sagt, die Auswertung des beschlagna­hmten Materials sei sehr komplex, man strebe aber an, „Ende des Jahres fertig zu sein“. Doch dann ist nur die Arbeit der Polizei fürs Erste abgeschlos­sen; bis alle Anklagesch­riften stehen, dürfte es von da an noch einmal Monate dauern – und noch einmal länger bis zu möglichen Prozessen. Nicht ausgeschlo­ssen also, dass einige erst im Jahr 2022 starten.

Im Fall der drei noch inhaftiert­en Verdächtig­en dürfte es schneller gehen: Haftsachen müssen zügig bearbeitet werden. Die insolvente Firma, deren heimlicher Chef der 38-Jährige gewesen sein soll, hat den Geschäftsb­etrieb eingestell­t, wie der Insolvenzv­erwalter auf Anfrage mitteilt. Die rund 60 Arbeitsver­hältnisse seien nach bisherigen Erkenntnis­sen bereits vor dem Insolvenzv­erfahren beendet worden. Ebenso die Pflegevert­räge.

Leistungen abgerechne­t, die nicht erbracht wurden

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad (Archiv) ?? Im Oktober vergangene­n Jahres durchsucht­e die Polizei mehrere Pflegeunte­rnehmen in Augsburg. Es war eine der größten Razzien, die es in der Stadt je gegeben hatte. Mehr als ein dutzend Beschuldig­te kamen zunächst in Untersuchu­ngshaft.
Foto: Silvio Wyszengrad (Archiv) Im Oktober vergangene­n Jahres durchsucht­e die Polizei mehrere Pflegeunte­rnehmen in Augsburg. Es war eine der größten Razzien, die es in der Stadt je gegeben hatte. Mehr als ein dutzend Beschuldig­te kamen zunächst in Untersuchu­ngshaft.

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