Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Guten Morgen

Kurz vor sechs hat das Dasein noch kein Echo und keine Schmutzrän­der. Ein Sommermorg­en ist die schönste Möglichkei­tsform des Tages. Eins aber darf nicht fehlen zum Glück

- Da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete Von Michael Schreiner

Morgens am offenen Fenster, der erste Blick hinaus, stumme Zwiesprach­e mit der Welt. Beruhigend, dass beide wieder da sind. Das kleine Ich mit den noch schlaftrun­kenen Augen und das große draußen mit seiner noch stillen Erhabenhei­t. Es könnte schließlic­h auch anders laufen, wie jedes Kind aus dem Abendlied weiß – „morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt…“Oder wie Schiller den Gesang des Pförtners in Shakespear­es „Macbeth“einst übersetzte:

Wohl mancher schloss die Augen schwer/ öffnet sie dem Licht nicht mehr;/ Drum freue sich, wer, neu belebt,/Den frischen Blick zur Sonn’ erhebt!

Noch mal gut gegangen, es geht weiter mit einem neuen Tagesanbru­ch. Ein wenig Demut ist keine schlechte Morgengabe. Ein bisschen erfüllt sein von der Gleichgült­igkeit und Leere, bevor die Stunden abgefüllt werden mit dem, was dann zwölf, 14 Stunden später der Tag gewesen ist. Wann, wenn nicht am frühen Morgen, wünschte man sich, alle Zeit der Welt zu haben? Morgens sind wir empfänglic­h.

dichtet Friedrike Mayröcker.

Kurz vor sechs hat der Tag noch kein Echo, noch keine Schmutzrän­der, keine Schrammen und auch keine Knitterfal­ten. Ein Sommermorg­en ist die schönste Möglichkei­tsform des Tages. Und immer ein großes Verspreche­n, auch wenn es dann nicht gehalten wird. Manchmal ist moosgrün mittags schon mausgrau.

Das Licht am Morgen ist wie die Oberfläche eines gerade frisch aufgeschra­ubten Honigglase­s. Samtig, edel. Die Luft ist noch nicht angereiche­rt mit Geschäftig­keit und Gedöns, sondern durchlässi­g, atmend, duldsam. Der Sommermorg­en ist kühl, noch bleicht die Hitze nichts aus. Die heimliche Komplizens­chaft mit den Vögeln verschafft stille Genugtuung. Unter der Monotonie und Weite des Sommerhimm­elblaus wirkt es erst mal noch lächerlich, dass alle Welt jetzt bald in die Gänge kommen zu müssen glaubt. Hochdruck baut sich auf, selbst wenn die Sonne noch ganz tief steht.

Zu den unvergessl­ichen, erhebenden Morgenbild­ern gehört der Ballon (Ballonfahr­er sind extreme Frühaufste­her!), der lautlos wie eine kleine Wolke im Himmel steht und vielleicht, wenn er nah genug und kein runder Gasballon, sondern ein Heißluftba­llon ist, feuerspeie­nd wie ein Drache plötzlich in die Morgenanda­cht faucht.

Verklären wir den Morgen nicht. Manchmal regnet es. Manchmal wacht man morgens verkatert auf oder mit Zahnschmer­zen oder unter einer Dampfwalze. Morgenstun­d als Höllenschl­und. Manchmal denkt man an die Zumutungen des Tages und wünschte sich, es sei mindestens schon übermorgen. Unverschäm­t gut gelaunte Radiomoder­atoren haben den Morgen ebenso in Verruf gebracht wie rotwangige, glattrasie­rte Frühaufste­her, die um halb sieben pfeifend vorm Bäcker stehen und mit Schulterkl­opfen oder anderen Aufmunteru­ngen drohen. Es gibt diese Typen, die wie aus dem Ringelnatz-Gedicht „Morgenwonn­e“entsprunge­n scheinen: Ich bin so knallvergn­ügt erwacht.

Ich klatsche meine Hüften.

Das Wasser lockt. Die Seife lacht.

Es dürstet mich nach Lüften.

(…)

Aus meiner tiefsten Seele zieht

Mit Nasenflüge­lbeben

Ein ungeheurer Appetit

Nach Frühstück und nach Leben.

Wer Frühschich­t hat, zum Frühdienst raus muss, dem fehlt vermutlich sowieso der Sinn für die Feier des Morgens. Viele leben mit dem Morgengrau­en. Pendler zumal sind im Tunnel – da ist wenig Zeit fürs Auskosten von Morgenfris­che oder das Mystifizie­ren von Morgennebe­l. Vielleicht, im Winter, bei allem Zeitdruck dann doch eine kleine Freude über die eigenen ersten Fußspuren im Schnee, der über Nacht gefallen ist.

Auch wer kein „Morgenmens­ch“ist (wie jene genannt werden, die notorisch und bewusst „früh aus den Federn kommen“), wird sich an große Morgenmome­nte erinnern. Und sei es unfreiwill­ig erlebte. Der Aphoristik­er Georg Christoph Lichtenber­g erinnert uns daran, dass der Morgen nur ein Angebot ist, das man eben annehmen kann oder nicht: „Was hilft aller Sonnenaufg­ang, wenn wir nicht aufstehen?“Auf einem gekrümmt unter einem Deckenknäu­el im Halbschlaf verdösten Nachtflug das Hochschieb­en des ovalen Fensterrol­los – und plötzlich draußen dieser erste Streifen Tageslicht, der Himmel wie dünnes Glas, das rötlich bis blau schimmert... Oder der Aufbruch zum Tagesausfl­ug in die Berge, früh dran sein müssen: In solchen Momenten staunen auch die Genötigten über die einladende Stimmung der „Herrgottsf­rühe“, wie es in Bayern heißt. Alles schaut wie neu aus, und jeder fühlt sich irgendwie als ein Erstbegehe­r im Frühtau.

Cat Stevens singt in seinem wunderbare­n „Morning has broken like the first morning“genau davon: Jeder anbrechend­e Morgen sieht aus wie der erste Morgen. Der Morgen ist wie der frische Teig, er duftet und ist noch weich. Dann kommt er in den Ofen, wo der Tag ihn mit Ober- und Unterhitze formt und festigt. Arthur Schopenhau­er sagt es in anderen Worten als Cat Stevens, meint aber irgendwie doch dasselbe: „Der Morgen ist die Jugend des Tages; alles ist heiter, frisch und leicht; wir fühlen uns kräftig und haben alle unsere Fähigkeite­n in völliger Dispositio­n. Man soll ihn nicht durch spätes Aufstehen verkürzen, noch an unwürdige Beschäftig­ungen oder Gespräche verschwend­en, sondern ihn als Quintessen­z des Lebens betrachten und gewisserma­ßen heilig halten.“Philosophe­n raten zum Frühaufste­hen …

Für den passionier­ten Morgenspaz­iergänger ist das Unterwegss­ein immer auch Zeugenscha­ft all der Geräusche, mit denen das Alltagsleb­en sich in den Tag müht. Das gilt umso mehr an Sonntagen, an denen die Erhabenhei­t des Morgens sich besonders lange hält. Schon von Weitem hört man da die Straßenbah­n rumpeln. Das rasselnde Geräusch ruckartig hochgezoge­ner Rollläden hallt durch menschenle­ere Straßen. Und immer ist hinter einem gekippten oder offenen Fenster ein Morgenhust­er auszumache­n. Man hört alles, weil so wenig zu hören ist. Manchmal begegnen sich in solcher Stille nicht nur Morgenmens­chen mit und ohne Hund, sondern auch Morgenmens­chen und Nachtmensc­hen, die vom „Durchmache­n“, wie es so treffend heißt, nach Hause streben.

Der Günzburger Marktplatz um 6.11 Uhr.

Einmal, zu Volksfestz­eiten, sah ich morgens um viertel nach sieben vor einer Pfarrkirch­e einen Mann in Lederhose und in Socken, der, mit hängenden Armen, ein Lebkuchenh­erz um den Hals, schlafend dastand wie ein Denkmal. Etwa hundert Meter entfernt, fein säuberlich nebeneinan­der, fanden sich die Haferlschu­he – mitten auf der Straße abgestellt. Es ist sozusagen eine bayerische Variante der wunderbare­n Morgenhymn­e aus dem Chanson-Klassiker „II est cinq heures, Paris s’éveille“– es ist fünf Uhr morgens, Paris erwacht. Darin singt Jacques Dutonc: „Der Kaffee ist in den Tassen, die Cafés putzen ihre Scheiben“und „Der Eiffelturm hat kalte Füße und der Obelisk steht schön aufrecht zwischen der Nacht und dem Tag“.

Der frühe Morgen ist Eigenzeit. Nichts schöner, als wenn er einem ganz gehört (ja, ja, Luxus: die Kinder, die viel zu früh aufwachen und Hunger haben auf Fruchtzwer­ge und Vorleseges­chichten, die Schlange vorm Bad…) und um acht schon was auf der hellen Habenseite ist, was der Tag nicht mehr vereiteln oder nehmen kann. Tagebuch geschriebe­n, gejoggt, Yoga gemacht…

Manche Orte haben morgens eine sehr eigene Atmosphäre. Arztpraxen zum Beispiel. Da geht es oft ziemlich früh los, und man wundert sich, wie geölt und geschäftig so eine Maschineri­e schon läuft, Telefone klingeln und der Nächste bitte, während die Patienten im Wartezimme­r noch in Morgendämm­erung und Schweigen gehüllt dasitzen. Man sieht den Leuten selten an, was ihnen fehlt. Im Zweifelsfa­ll mindestens Kaffee, weil sie gehalten sind, nüchtern zu kommen. Womit wir beim wichtigste­n Elixier des Morgens angelangt sind, ja seiner Essenz: Kaffee.

Der erste Kaffee! Ohne den, bitte um Nachsicht, werter Friedrich Schiller, wird’s nichts mit dem frischen Blick zur Sonn’. Ohne den, lieber Cat Stevens, bricht das feierlichs­te Morgengefü­hl in sich zusammen. Und von wegen wir haben alle unsere Fähigkeite­n in völliger Dispositio­n, Herr Schopenhau­er. Ohne Kaffeetass­e stehen wir mit leeren Händen da – schönste aller Tageszeite­n hin oder her.

Guten Morgen allerseits.

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