Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Stürmerin hinter der Corona-App

Carmela Troncoso wurde aus Liebe zum Fußball Technikexp­ertin und kämpft nun für mehr Datenschut­z. So kam sie zum Tracing-Auftrag / Von Lea Thies

- ARTISTIK MIT STATISTIK ZUM WOCHENENDE

Ohne den Fußball, wer weiß, wäre vielleicht alles anders gekommen. Vielleicht wäre sie Ärztin geworden, Managerin, auf jeden Fall wohl kein analoger Albtraum für digitale Datenkrake­n. Aus Liebe zum Fußball und zu ihrem Team aber entschied sich Carmela Troncoso vor fast 20 Jahren dafür, in ihrer nordspanis­chen Heimatstad­t zu bleiben und an der Technische­n Universitä­t von Vigo in Galicien Telekommun­ikationste­chnologie zu studieren. Die Fächerausw­ahl sei dadurch begrenzt gewesen. „Mein Vater hat bei IBM gearbeitet, wir hatten immer einen Computer daheim, ich habe gerne etwas gedaddelt, aber ich war kein Nerd“, erklärt die 37-Jährige, während sie daheim in Lausanne auf ihrem Sofa sitzt. Sie macht für das Skype-Interview eine Pause vom Packen, am nächsten Tag will sie mit ihrer Ehefrau zu einem Campingtri­p aufbrechen. Nach all der Aufregung um den Datenschut­z in Corona-Zeiten, nach vielen Nächten mit wenig Schlaf, nach unzähligen Konferenze­n kann sie ein wenig Ruhe gebrauchen und will sich auch mal in Gegenden begeben, in denen der Internetzu­gang nicht gesichert ist. Die Kämpferin braucht mal Urlaub.

Nach dem Masterabsc­hluss war sie dann doch fort aus Vigo gegangen. Und seit ihrer Promotion über Datenschut­ztechnolog­ien an der Universitä­t Leuven (Belgien) hat Carmela Troncoso auch keine Zeit mehr für Fußball. „Ich habe viel gearbeitet, wenig trainiert – und wenn du dauernd auf der Bank sitzt, macht das keinen Spaß mehr“, sagt die Ex-Stürmerin der 2. belgischen Liga, die auf die Frage, ob sie eine Kämpferin sei, ihre Ehefrau zitiert: „Es ist schwer, keine zu sein als homosexuel­le Person in der Schweiz.“Beruflich hat sie es inzwischen in die Champions League geschafft, quasi als Verteidige­rin: Als internatio­nal renommiert­e Datenschut­zexpertin lehrt sie an der École polytechni­que fédérale de Lausanne (EPFL) und ist neuerdings eine wichtige Protagonis­tin im Kampf gegen die Corona-Pandemie: Carmela Troncoso ist Chefin des Spring-Lab, einem Team aus IT-Spezialist­en, die zusammen mit anderen internatio­nalen Experten das Protokoll DP3T (Decentrali­zed Privacy-Preserving Proximity Tracing) entwickelt haben, das inzwischen Standard in vielen Tracing-Apps ist. Auf diesen Kommunikat­ionsregeln basiert auch die deutsche Corona-Warn-App, die von SAP und der Deutschen Telekom programmie­rt wurde.

„Das Protokoll war der einfache Part“, sagt sie rückblicke­nd, sie hätten es extra simpel gehalten, damit es auch funktionie­rt. Härter sei es für sie und ihre Mitstreite­r gewesen, die Überzeugun­gsarbeit dafür zu leisten, dass eine dezentrale Datenspeic­herung der richtige Weg ist. „Ich musste mehr verhandeln, als mir lieb war.“Denn zunächst habe es danach ausgesehen, dass die Corona-Warn-Apps riesige Datensamme­lmaschinen werden. Doch dann gab es einen internatio­nalen Wissenscha­ftler-Aufstand, an dem auch Carmela Troncoso mitwirkte.

Als Telekommun­ikationsex­pertin war sie zusammen mit Kollegen eingeladen, Teil der länderüber­greifenden Initiative „Pan European Privacy-Preserving Proximity Tracing“(Pepp-PT) zu sein, zu der sich Wissenscha­ftler und Experten aus verschiede­nen Ländern zusammenge­schlossen hatten, um an der Technik für eine Corona-Warn-App zu arbeiten. „Dann fanden wir heraus, dass der Ansatz, den das Konsortium verfolgte, nicht gut für die Gesellscha­ft war. Eine zentrale Datenspeic­herung war für uns kein Weg. Wir setzten uns dagegen zur Wehr, produziert­en eine Alternativ­e – und da sind wir nun“, fasst Carmela Troncoso zusammen.

Die etwas längere Version klingt so: Namhafte Wissenscha­ftler zogen sich aus Pepp-PT zurück. Hunderte internatio­nale Experten warnten in einem offenen Brief vor „Überwachun­gstechnolo­gien“und sprachen sich für eine dezentrale Lösung und mehr Transparen­z aus. Wie die aussehen könnte, präsentier­ten Carmela Troncoso und ihr Team binnen zwei bis drei Monaten: eine App, über die Handys per BluetoothT­echnologie untereinan­der anonymisie­rt Daten austausche­n, die die Endgeräte nicht verlassen (siehe Infokasten).

Als der gesellscha­ftliche Druck stieg und auch Google und Apple sich bereit erklärten, ihre Smartphone-Software für DP3T entspreche­nd anzupassen, entschiede­n sich immer mehr Regierunge­n für die dezentrale Lösung. Auch die deutsche Bundesregi­erung änderte den Kurs. „Das war ein historisch­er Moment für den Datenschut­z, eine Datenschut­zlösung eines solchen Ausmaßes hatte es noch nie gegeben“, freut sich Carmela Troncoso. Auf der einen Seite sei sie froh, dass Apple und Google mit im Boot sind, „weil die Macht der großen Konzerne das Ganze in die richtige Richtung geschoben hat“, auf der anderen Seite kämpfe sie sehr mit sich, dass sie mit ebendiesen Computerri­esen in einem Boot sitze, die täglich unzählige Daten im Internet sammeln. Auch über sie: Google etwa spuckt allein beim Stichwort „Carmela Troncoso“348000 Ergebnisse in 0,43 Sekunden aus. Lebenslauf, Interviews, Videos, Arbeiten, ihre Profile im Berufsnetz­werk LinkedIn und beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter, die sie beruflich zum Netzwerken und Kommunizie­ren nutzt. „Ich bin auf Facebook, aber ich nutze es nicht“, schreibt sie in einer WhatsApp-Nachricht, ja, WhatsApp gehöre auch zu Facebook, „aber in diesen Zeiten ist es ja obligatori­sch, ein Soziallebe­n zu führen und Fotos vom Neffen zu bekommen.“Carmela Troncoso weiß: Soziale Netzwerke sind praktisch. Aber auch Teil eines Problems.

Daten sind Macht. Viele Daten sind viel Macht. Daher sieht Carmela Troncoso riesige Datensamml­ungen, wie sie auch etwa gerade in Israel und Südkorea durch CoronaNach­verfolgung­s-Apps zusammenge­tragen werden, als eine Gefahr. Niemand könne garantiere­n, dass diese unangetast­et blieben, dass nicht ein aggressive­r Algorithmu­s die Daten auswerte. „Selbst wenn Regierunge­n jetzt verspreche­n, diese Datensamml­ung nicht zu verwenden, wir wissen nicht, wer danach an die Macht kommt“, sagt sie und ergänzt: „Sorry, aber ich traue keiner Regierung.“Große Datensamml­ungen können ihrer Meinung nach für ein Ungleichge­wicht sorgen, das die Gesellscha­ft und die Demokratie gefährde. Etwa wie beim Datenskand­al um Cambridge Analytica, als digitale Daten über Wähler gesammelt und ausgewerte­t wurden, um das Wahlverhal­ten der Personen zu beeinfluss­en. „Datenschut­z ist nicht das Ziel, es ist das Mittel, um Gesellscha­ften vor einem Ungleichge­wicht zu schützen“, betont Carmela Troncoso. Für sie sei bei der Diskussion um die CoronaTrac­ing-App von Anfang an klar gewesen: „Wir können das nicht machen, wenn wir damit ein neues Gesellscha­ftsproblem verursache­n.“

Um den Schutz der Gesellscha­ft und der Demokratie geht es auch bei ihrem nächsten Projekt. Carmela Troncoso gehört zu einem Team, das eine Recherchep­lattform für Investigat­iv-Journalist­en entwickelt, damit diese nicht länger um ihre Quellensic­herheit bangen müssen. Ihr Kampf für mehr Datenschut­z im Internet geht immer weiter. Wir müssten noch viel über Technologi­e lernen und viel tun, aber wir hätten eine Chance gegen die Künstliche Intelligen­z, meint Carmela Troncoso, die auch vor Technikhör­igkeit warnt. Erst neulich etwa habe sie sich wieder mal gegruselt, als sie sich die Jahreskonf­erenz von Apple angesehen habe, auf der die neuen Funktionen der Apple-Uhr vorgestell­t wurden. „Da wurde gepriesen, dass die Uhr misst, wie lange man sich die Hände gewaschen hat. Wozu? Eine Studentin sagte mir, sie singt einfach zweimal ,Happy Birthday’ hintereina­nder. Das reicht doch“, sagt Carmela Troncoso und ergänzt: „Ich habe wirklich Angst, dass die nächste Generation dumm wird. Wir verlieren durch solche Technologi­e die Fähigkeit, selbststän­dig Lösungen zu finden.“Kopf einschalte­n – immer gut.

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Foto: EPFL/Alain Herzog

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