Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Grüne wollen Fleischbranche komplett umkrempeln
Die Partei will als Reaktion auf den Skandal große Fleischbetriebe wie Tönnies in die Pflicht nehmen und legen ein Reformkonzept vor. Prinzipielle Zustimmung kommt von Ministerin Julia Klöckner
Berlin Verängstigte und misshandelte Tiere, geknechtete Mitarbeiter: Das Coronavirus hat die Arbeitsweise auf einigen deutschen Großschlachthöfen in den Fokus gerückt. Die Politik reagierte und erließ neue Regeln, die von Teilen der Branche offenbar schon wieder umgangen werden. Die Grünen wollen dem Gebaren nun insgesamt einen Riegel vorschieben. Agrarexperten der Partei haben ein Konzept erarbeitet, das die Branche komplett umkrempeln soll. Dezentralisierung ist das Stichwort, und die befürwortet auch die Bundeslandwirtschaftsministerin. „Statt weniger, großer Zentralbetriebe in der Schlachtung ist es mir wichtig, zu schauen, was die kleinen brauchen“, sagt Julia Klöckner von der CDU.
Friedrich Ostendorff ist gelernter Bauer, er bewirtschaftet 80 Hektar Fläche im Ökolandbau und hält unter anderem Schweine. Ostendorff ist auch agrarpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion und Co-Autor des fünfseitigen Konzepts, das unserer Redaktion exklusiv vorlag. „Schlachtung und Fleischverarbeitung haben sich zu einer Industrie entwickelt, die vor der Corona-Pandemie weit außerhalb des Radars der Öffentlichkeit lag“, sagt Ostendorff. „Die Arbeitsund Wohnbedingungen für die Beschäftigten sind katastrophal und Tiere leiden“, fasst Ostendorff zusammen.
Nach Zahlen des Bundeslandwirtschaftsministeriums gab es 2019 in Deutschland 317 Schlachtbetriebe (ohne Geflügel) mit mehr als 20 Beschäftigten. Mehr als 55 Millionen Schweine wurden verarbeitet, dabei konzentriert sich das Geschehen auf lediglich zehn Unternehmen – sie schlachten rund 80 Prozent der Tiere. Die größten Betriebe finden sich in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, weitere große Schlachthöfe stehen in BadenWürttemberg, Sachsen-Anhalt und Bayern.
Die Grünen gehen mit den Großen der Branche hart ins Gericht. Sie beklagen miserable Arbeits- und Wohnbedingungen sowie Verstöße gegen Arbeitsschutzstandards, Hygieneauflagen und Seuchenschutzmaßnahmen. Die bestehenden Strukturen sollten deshalb „zugunsten kleiner und mittelständischer Unternehmen verändert werden“, fordert Ostendorff zusammen mit agrarpolitischen Sprecherinnen und Sprechern grüner Landesverbände. Eine Kernforderung des fünfseitigen Papiers ist, die bestehende Gebührenordnung umzustellen. Denn während in industriellen Schlachtkonzernen amtliche Veterinäre kontinuierlich vor Ort sind, entstehen kleineren Betrieben durch Anfahrtskosten und geringere Stückzahlen deutlich höhere Kontrollgebühren. Eine Einheitsabgabe pro geschlachtetem Tier würde hier für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen.
Darüber hinaus spricht sich die Partei für den Ausbau sogenannter alternativer Schlachtmethoden aus, zu denen unter anderem die Weideschlachtung zählt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Rückkehr zu kleineren Schlachtstätten und Metzgereien. Mindestens 40 Prozent der
Schlachtungen sollen mittelfristig, spätestens in zehn Jahren, in kleinen und mittelständischen Betriebsstrukturen stattfinden, nennen die Grünen als Ziel der Dezentralisierung.
Beim Bundesverband der Regionalbewegung rennen die Grünen damit offene Türen ein. Die Dachorganisation der Regionalvermarkter fordert nicht erst seit dem Fall Tönnies eine Reform der Ernährungswirtschaft. „Wenn wir ernsthaft die Strukturen erhalten wollen, die das Wohl von Mensch, Tier und Klima in den Vordergrund stellen, müssen regionale Wirtschaftskreisläufe mit dezentralen Strukturen sowohl Teil einer zukünftigen Lebensmittel- als auch Klimapolitik sein“, sagt der Vorsitzende Heiner Sindel. Ostendorff sieht das genauso. „Fleischbetriebe sollten wir daran messen, ob sie regional und im Verbraucherinteresse agieren“, sagt er.
Die Regierung will „Schlachthöfe und Metzger, die regional vor Ort sind, erhalten und fördern“, betont Ministerin Klöckner auf Anfrage. Dezentralität bedeute kürzere Transportzeiten und damit mehr Tierwohl. „Deshalb haben wir bei dem neuen Gesetz darauf geachtet, dass es Ausnahmen für kleine und mittlere Handwerksbetriebe gibt“, erklärt die CDU-Politikerin. Im Übrigen gebe es Förderprogramme. „Auch die Weideschlachtung unterstützen wir“, sagt Klöckner. Doch gleichzeitig dämpft sie zu hohe Erwartungen: „Realistischerweise müssen wir alle sehen, dass der Bedarf an Fleischerzeugnissen für uns Verbraucher dadurch allein nicht gedeckt werden kann und wird.“
Tönnies, die Nummer eins in Deutschland, schlachtet nach der Zwangspause wegen einer Vielzahl von Corona-Infizierten am Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück wieder mehr Schweine, wie ein Konzernsprecher der Nachrichtenagentur dpa sagte. Das Unternehmen hat zudem 15 Tochtergesellschaften gegründet. Kritiker mutmaßen, Tönnies wolle das Gesetz von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) umgehen, wonach Schlachtbetriebe mit 50 Beschäftigten und mehr ab 2021 keine Werkvertragsmitarbeiter mehr beschäftigen dürfen. Der Konzern weist das zurück und spricht von einer vorsorglichen Gründung.
Ostendorff hingegen warnt: „Industrielle Großbetriebe werden durch zahlreiche rechtliche Ausgründungen nicht zu Handwerksbetrieben“, sagt er und betont: „Eine Verwässerung der Gesetzesinitiative von Hubertus Heil darf es unter keinen Umständen geben.“