Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Vom Hotspot zum CoronaVorbild
Der Landkreis Tirschenreuth ist der einzige in Bayern mit einem Inzidenzwert unter 100. Lange war er der mit den meisten Infektionen. Jetzt entpuppt sich ein Nachteil als Vorteil
Tirschenreuth Nirgendwo in ganz Deutschland gab es in der ersten Corona-Welle so viele Infektionen wie im Landkreis Tirschenreuth. Die Welle zu Jahresbeginn traf den Kreis in der Oberpfalz ebenfalls hart, im Februar hatte er mit Inzidenzwerten von fast 400 pro 100 000 Einwohnern zwischenzeitlich wieder die höchsten Werte der ganzen Bundesrepublik. Seit Dienstag aber ist der Landkreis Tirschenreuth der letzte in Bayern, dessen Sieben-Tages-Inzidenz unter 100 liegt – und zwar deutlich. Am Dienstagmorgen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) eine Inzidenz von 59,7. Bayernweit liegt der Wert bei 185,3.
Damit ist das Alltagsleben im Kreis Tirschenreuth gerade deutlich weniger eingeschränkt als anderswo: Schüler besuchen seit Mitte Dezember zum ersten Mal wieder den Unterricht, in den Geschäften ist „Click & Meet“ohne negativen Corona-Test möglich.
Vom Hotspot zum Corona-Vorbild: Wie fühlt sich das an? „Ein sehr gutes Gefühl“, sagt Landrat Roland Grillmeier (CSU) auf Nachfrage unserer Redaktion – schiebt aber gleich hinterher: „Nach einem Jahr Pandemie mit Aufs und Abs ist dies auch eine Momentaufnahme.“Man merkt: Grillmeier ist vorsichtig geworden in seinen Aussagen. Im Spätsommer hatten sie teilweise null Infektionen am Tag gehabt, und dann ging doch alles von vorne los.
Die Hoffnung bringenden neuen Zahlen führt Grillmeier unter anderem darauf zurück, dass bereits fast 29 Prozent der Menschen in seinem Landkreis ihre erste Impfung erhalten haben. Im bayerischen Schnitt sind es 20 Prozent. Der Unterschied liegt auch daran, dass der Landkreis Tirschenreuth an der Grenze zu Tschechien liegt. Das Auswärtige Amt stuft das Land als Hochinzidenzgebiet ein, zwischenzeitlich hatten mehr als 1000 Neuinfektionen
pro 100000 Einwohner dafür gesorgt, dass Bayern Grenzkontrollen einführte. Grenzregionen erhielten vom Freistaat zusätzliche Impfdosen, um ihre Bevölkerung vor einer Explosion der Infektionszahlen zu schützen. Mittlerweile entspannt sich die Situation im Nachbarland.
Nach und nach kommt dem Landkreis jetzt zugute, dass so viele Bürger bereits eine Covid-19-Erkrankung hinter sich haben. Insgesamt dürfte die Immunisierungsquote im Kreis Tirschenreuth deshalb ein Stück weit höher liegen als im Rest Bayerns, vermuten Wissenschaftler des Universitätsklinikums
Regensburg, die im Kreis Tirschenreuth gerade eine Covid-19-Studie durchführen. Sie begann im Frühjahr 2020, als Tirschenreuth erstmals zum Hotspot wurde. 4000 Freiwillige geben dabei regelmäßig ihr Blut, um die Verbreitung des Virus zu untersuchen.
Die Dunkelziffer der Sars-CoV2-Infizierten lag demnach in der ersten Jahreshälfte 2020 bei 80 Prozent. Die damaligen Testmöglichkeiten hatten nur jede fünfte Infektion ans Tageslicht gebracht. Den Berechnungen nach hatten allein bis Juni 2020 8,6 Prozent der Bevölkerung im Landkreis Tirschenreuth eine Infektion durchlaufen.
Landrat Roland Grillmeier weist außerdem darauf hin, dass der Landkreis im Lauf der vergangenen Monate seine Testkapazitäten ausgebaut hat. Allein 2021 seien 120000 Tests nur in den Teststationen durchgeführt worden. Im Gesundheitsamt arbeiten jetzt viermal so viele Menschen wie vor der Pandemie, die Gewerbeaufsicht kontrolliert, ob die Test- und Hygienekonzepte in den Betrieben eingehalten werden.
Gerade im Einzelhandel würden die Menschen im Landkreis ihre Freiheiten auch nutzen, sagt der CSU-Landrat. „Jeder muss sich jetzt bewusst sein, dass er beitragen kann, diese Freiheiten zu behalten.“