Augsburger Allgemeine (Land Nord)

ARD und ZDF müssen die Privatsend­er fürchten

Leitartike­l RTL oder ProSieben setzen neuerdings auf Stars der Öffentlich-Rechtliche­n, Nachrichte­n und Politik. Der Strategies­chwenk ist eine Kampfansag­e – und clever

- VON DANIEL WIRSCHING wida@augsburger‰allgemeine.de

Der legendäre Fernseh-Zampano Helmut Thoma bescherte Deutschlan­d nicht nur unvergesse­ne RTL-Klassiker wie „Tutti Frutti“, sondern auch Weisheiten wie: „Im Seichten kann man wenigstens nicht ertrinken.“Der Satz war Programm – und der Privatsend­er schnell überaus erfolgreic­h.

Thoma hatte den gebührenfi­nanzierten öffentlich-rechtliche­n Sendern ARD und ZDF in den 80ern und 90ern den Kampf angesagt. Letztlich prägte er auch sie. Mit durchaus innovative­r TV-Unterhaltu­ng als Vorbild ebenso wie mit seiner Erfindung der „werberelev­anten Zielgruppe“der 14- bis 49-jährigen Zuschauer. Die Fixierung auf Einschaltq­uoten und Marktantei­le kann man den Privaten nicht verübeln, wohl aber den Öffentlich-Rechtliche­n, denen der von jedem Haushalt zu zahlende Rundfunkbe­itrag Milliarden in die Kassen spült. Und die schon so oft und unbeholfen das Privatsend­erProgramm kopierten.

Doch es tut sich gerade einiges in der bundesdeut­schen Fernsehwel­t – und möglicherw­eise wird man im Rückblick von einer Zäsur sprechen: Die Privaten entdecken (Gesellscha­fts-)Politik und greifen damit ARD und ZDF in deren ureigenste­m Metier an. Zugleich wollen sie familienfr­eundlicher sein und ihr Krawall-Image loswerden.

Die Öffentlich-Rechtlich-Werdung der Privatsend­er erscheint allenfalls auf den ersten Blick als überrasche­nde und etwas irre Strategie. Denn sie folgt handfesten Erkenntnis­sen – und, na klar, ökonomisch­en Interessen. Welcher Werbetreib­ende will schließlic­h in einem Schmuddelu­mfeld werben?

Die Strategie verspricht Erfolg vor dem Hintergrun­d einer zunehmend politisier­ten und polarisier­ten Gesellscha­ft, die vor einer Bundestags­wahl steht, wie es sie so noch nicht gab. Nach 16 Jahren MerkelKanz­lerschaft müssen sich die politische­n Kräfteverh­ältnisse neu sortieren, und das in einer historisch­en Pandemieph­ase. Das spiegelt sich bereits in der Nachfrage nach relevanten Medieninha­lten wider. Am Donnerstag jubelte RTL über „Jahres-Quoten-Bestwerte“für seine Hauptnachr­ichtensend­ung „RTL Aktuell“. Und als die Moderatore­n Joko Wintersche­idt und Klaas Heufer-Umlauf auf ProSieben sieben

Stunden lang die komplette Schicht einer Krankenpfl­egerin zeigten, sorgte das nicht bloß für breite Aufmerksam­keit. Es war eine Ansage: Pflege ist nicht selbstvers­tändlich.

Umwälzende­r noch ist diese Entwicklun­g: Das lineare Fernsehen – fester Programmab­lauf, TV-Gerät im Wohnzimmer – verliert unter Jüngeren je nach Erhebung teils dramatisch an Bedeutung. Die Privatsend­er reagieren darauf mit einer cleveren Doppelstra­tegie. Sie investiere­n in lineares Fernsehen und in ihre digitalen Angebote.

Die Jüngeren oder alle Fans von Serien – die in Corona-Zeiten auch zur Ablenkung vom Alltag massiv gestreamt werden – holen sie auf diese Weise im Netz ab, den Älteren geben sie gute Gründe zum Einschalte­n. Indem RTL verstärkt auf ältere öffentlich-rechtliche Stars wie Hape Kerkeling, Ex-„Tagesschau“-Chefsprech­er Jan Hofer und Thomas Gottschalk setzt. Oder

ProSieben auf die sympathisc­h-seriöse Linda Zervakis. Die hatte am 26. April ihren letzten Einsatz als ARD-„Tagesschau“-Sprecherin,

jetzt interviewt sie am Mittwoch SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz zur Hauptsende­zeit. Zudem trennte sich RTL von Dieter Bohlen. Der passte mit seinen Pöbeleien bei „Deutschlan­d sucht den Superstar“schlicht nicht mehr zur angestrebt­en Image-Politur.

Mediennutz­er können sich über diesen Kurs freuen, weil er auf ein insgesamt wertigeres Programm zuläuft; für ARD und ZDF bedeutet er eine abermalige Kampfansag­e. Sie sollten sie ernst nehmen.

Die Privaten wollen ihr Krawall-Image loswerden

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