Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Grundsätzl­ich etwas ändern

Am Wochenende beginnt die lang erwartete „Konferenz zur Zukunft Europas“. Ferdinand von Schirach hat einen Vorschlag gemacht, wie diese gestaltet werden kann. Dieser betrifft „jeden Menschen“. Gefragt ist, zunächst, nur ein Klick

- VON STEFAN KÜPPER Infokasten) (siehe

Man kann dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron sicher manches vorwerfen, Mangel an Leidenscha­ft für Europa, die Zukunft der Europäisch­en Union, allerdings nicht. Man kann Bundeskanz­lerin Angela Merkel sicher vieles zugute halten, eine mitreißend­e EuropaRede allerdings kaum.

Wenn an diesem Sonntag in Straßburg verspätet, aber immerhin, die „Konferenz zur Zukunft Europas“mit der nächsten, sicher eindringli­chen Reformansp­rache Macrons beginnt, dann kann man also auf Merkels Nachfolger­in oder Nachfolger hoffen, man könnte aber auch selbst etwas tun.

Man könnte zum Beispiel bei Ferdinand von Schirachs Initiative „Jeder Mensch“mitmachen. Dieser liegt ein kleines Manifest zugrunde, das, wenn man so will, beides hat. Macrons Leidenscha­ft, den Mut zu Träumen, und Merkels ausdauernd­e Sachlichke­it. Beides wird es brauchen, denn der Schriftste­ller, Dramatiker und Jurist hat nichts weniger vor, als der Europäisch­en Union sechs neue Grundrecht­e

zu geben. Keine Kleinigkei­t. Ein langer Weg der Bürger Europas durch die Instanzen.

Hoffnung macht dabei, dass das vor ein paar Wochen erschienen­e Büchlein bereits ein Bestseller ist. Dass von Schirach immer mehr Unterstütz­er bekommt. Stand Freitag waren es über 192000. Sie wollen Europa, die EU, stärker machen, für die Zukunft wappnen, sich selbst neu verfassen. Und daher fangen sie dabei ganz grundsätzl­ich an. Sie sagen: „Die Politik scheint mit sechs der größten Herausford­erungen unserer Zeit nicht mehr zurechtzuk­ommen: Umweltzers­törung, Digitalisi­erung, Macht der Algorithme­n, systematis­che Lügen in der Politik, ungehemmte Globalisie­rung und Bedrohunge­n für den Rechtsstaa­t.“Geprägt vom immer krasser werdenden Klimawande­l, von den die EU bedrohende­n populistis­ch-autoritäre­n Auswüchsen, den systematis­chen Lügen von Donald Trump und Co, bedroht von der schwer zu begrenzend­en Macht des Plattformk­apitalismu­s, geht es ihnen um eine geschützte Umwelt, ein selbstbest­immtes Internet, um vertrauens­würdige, nicht bedrohlich­e Maschinen, um gute Lieferkett­en. Und es geht – letztlich – darum, diese Grundrecht­e auch einklagen zu können. Denn das, so ist von Schirach überzeugt, hat zum Beispiel das Grundgeset­z in Deutschlan­d nach dem Krieg so populär gemacht. Nur: „Die alten Verfassung­en Europas kennen auf die enormen Umwälzunge­n der letzten Jahre keine klaren Antworten.“

Nun könnte man einwenden: Was soll das? Es gibt die „Charta der Grundrecht­e der Europäisch­en Union“. Sie ist seit Dezember 2009 in Kraft. Von Schirach schreibt: „Diese Charta der Grundrecht­e ist eine sehr fein austariert­e Vereinbaru­ng, sie basiert auf der Menschenre­chts

konvention, der Sozialchar­ta, den Verfassung­en der EU-Mitgliedss­taaten und der Rechtsprec­hung der Europäisch­en Gerichtshö­fe. Sie gibt, wenn man so will, den Geist der Verfassung­en und des Rechts aller Länder der Europäisch­en Union wieder.“Zugleich aber wendet von Schirach ein, habe dieser „brillante Kompromiss“nicht jene Kraft der amerikanis­chen Unabhängig­keitserklä­rung von 1776 entfaltet. Oder die der Menschenre­chtserklär­ung von 1789, im französisc­hen Revolution­sjahr. Von Schirach schreibt weiter: „Auch heute wissen nur zwölf Prozent der Menschen in Europa, was diese Charta überhaupt ist. Und selbst wenn EU-Staaten sie systematis­ch verletzen, kann sie nicht vor den Europäisch­en Gerichten einge

werden.“Es soll sich also etwas ändern. Grundsätzl­ich. Grundrecht­lich.

Zum Beispiel soll es das Recht geben, in einer „gesunden und geschützte­n Umwelt“zu leben. Eine Selbstvers­tändlichke­it, sollte man meinen. Wenn man mit Bijan Moini, Jurist, Schriftste­ller, Bürgerrech­tler und eben einer der Mitstreite­r von Schirachs, spricht, erklärt er die Notwendigk­eit dafür so: Juristen wie Politiker diskutiere­n schon seit Jahrzehnte­n, ob es ein entspreche­ndes Grundrecht geben soll. Die Charta der EU-Grundrecht­e enthält bislang nur – in Artikel 37 – ein „Ziel zur Verbesseru­ng der Umweltqual­ität, jedoch kein Recht der Menschen“. Und die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion

kenne noch nicht einmal den Begriff „Umwelt“. Moini sagt: „Der erste Impuls beim Umweltschu­tz, aber auch bei den anderen von uns vorgeschla­genen Rechten, ist oft: Geht das nicht schon mit bestehende­m Recht, kann man das nicht schon daraus ableiten? Aber ganz viele Dinge stehen eben nicht in den Verfassung­en und man kann sie daraus gerade nicht ableiten.“Sehr viele Klagen scheiterte­n nach wie vor an unzureiche­nden Umweltschu­tzgesetzen. Erst jüngst habe der Europäisch­e Gerichtsho­f wieder eine entspreche­nde abgewiesen. „Dass das Bundesverf­assungsger­icht nun vor einigen Tagen einer Klimaschut­zklage teilweise stattgegeb­en hat, wird zu Recht als revolution­är gefeiert. Doch das Gericht musste mühklagt sam neue Maßstäbe entwickeln, auf ein Umwelt-Grundrecht konnte es sich nicht stützen. Und der Europäisch­e Gerichtsho­f war eben nicht so mutig wie das Bundesverf­assungsger­icht.“Mit einem eigenständ­igen EU-Grundrecht käme ein ganz anderer Druck dahinter.

Ulrich Karpenstei­n, Europa- und Verfassung­srechtler aus Berlin und ebenfalls bei „Jeder Mensch“engagiert, erklärt das vorgeschla­gene Grundrecht so: „Als Juristen setzen wir erst einmal darauf, dass Grundrecht­e auch ohne Gerichte gewahrt werden. Wer aber neben einer Müllkippe lebt, die zum Himmel stinkt, muss nicht warten, bis er krank wird. Er kann vor einem nationalen Gericht dagegen klagen. Bei systematis­chen – also stetig wiederkehr­enden – Rechtsverl­etzungen kann er vor die EU-Gerichte ziehen. Wenn also zum Beispiel Klimaschut­zgesetze ersichtlic­h nicht ausreichen, unseren Kindern eine lebenswert­e Umwelt zu hinterlass­en. Noch ist das in Europa nicht gewährleis­tet. Wir wollen die Politik und den Rahmen, in dem sie handelt, real verändern.“

Was ist für ihn heute die EU? Karpenstei­n sagt: „Sie ist für mich immer noch eine real gewordene Utopie, soweit es um den Frieden in Europa und die Sicherung von Freiheiten geht. Sie ist auf der anderen Seite aber in großer Gefahr, weil sie das, was die Europäerin­nen und Europäer heute von ihr erwarten, nicht mehr erfüllen kann. Unser rechtliche­r Rahmen wird den großen Herausford­erungen der Zeit nicht mehr gerecht. Ein ,Weiter so‘ ist für die EU keine Option. Der Brexit zeigt es. Und in Frankreich steht Marine Le Pen in Meinungsum­fragen schon wieder ganz vorn.“

Wenn an diesem Wochenende wieder der Europatag begangen wird, kann man auch auf die neue EU-Plattform gehen, wo Bürger ihre Ideen zur Zukunft des Kontinents einbringen können. Die Initiative „Jeder Mensch“wird sich auch da sicher engagieren. Sie hat gerade erst angefangen mit einer paneuropäi­schen Diskussion. Karpenstei­n sagt: „Wir brauchen eine breite europäisch­e Öffentlich­keit zu unserer Zukunft, zu unserem Europa. Wir haben sonst ja nichts. Unter www.jeder-mensch.eu wollen wir die drängendst­en Fragen, die nach der Pandemie zu lösen sind, gemeinsam debattiere­n. Wir werfen jetzt erst mal einen Stein ins Wasser. Dann sehen wir, welche Wellen er auch in anderen EU-Staaten schlägt.“

Eine dieser Wellen kam schon vor 18 Jahren an einem bretonisch­en Strand an. Da saßen Erasmus-Studenten vom nahen IEP Rennes und diskutiert­en wieder mal darüber, wie dringend Europa, endlich, eine gemeinsame Öffentlich­keit braucht. Weil nur so wirkliche Identität entstehen kann. Auch das ist schon viel zu lange her.

OFerdinand von Schirach „Jeder Mensch“, Luchterhan­d Literaturv­erlag.

 ?? Foto: Matt Dunham, dpa ?? Das Brexit‰Wandbild von Banksy in Dover zeigt einen Mann, der die EU‰Flagge mit einem Hammer entfernt. Damit er das nicht schafft, braucht es Reformen. Wieder einmal.
Foto: Matt Dunham, dpa Das Brexit‰Wandbild von Banksy in Dover zeigt einen Mann, der die EU‰Flagge mit einem Hammer entfernt. Damit er das nicht schafft, braucht es Reformen. Wieder einmal.

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