Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Grundsätzlich etwas ändern
Am Wochenende beginnt die lang erwartete „Konferenz zur Zukunft Europas“. Ferdinand von Schirach hat einen Vorschlag gemacht, wie diese gestaltet werden kann. Dieser betrifft „jeden Menschen“. Gefragt ist, zunächst, nur ein Klick
Man kann dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron sicher manches vorwerfen, Mangel an Leidenschaft für Europa, die Zukunft der Europäischen Union, allerdings nicht. Man kann Bundeskanzlerin Angela Merkel sicher vieles zugute halten, eine mitreißende EuropaRede allerdings kaum.
Wenn an diesem Sonntag in Straßburg verspätet, aber immerhin, die „Konferenz zur Zukunft Europas“mit der nächsten, sicher eindringlichen Reformansprache Macrons beginnt, dann kann man also auf Merkels Nachfolgerin oder Nachfolger hoffen, man könnte aber auch selbst etwas tun.
Man könnte zum Beispiel bei Ferdinand von Schirachs Initiative „Jeder Mensch“mitmachen. Dieser liegt ein kleines Manifest zugrunde, das, wenn man so will, beides hat. Macrons Leidenschaft, den Mut zu Träumen, und Merkels ausdauernde Sachlichkeit. Beides wird es brauchen, denn der Schriftsteller, Dramatiker und Jurist hat nichts weniger vor, als der Europäischen Union sechs neue Grundrechte
zu geben. Keine Kleinigkeit. Ein langer Weg der Bürger Europas durch die Instanzen.
Hoffnung macht dabei, dass das vor ein paar Wochen erschienene Büchlein bereits ein Bestseller ist. Dass von Schirach immer mehr Unterstützer bekommt. Stand Freitag waren es über 192000. Sie wollen Europa, die EU, stärker machen, für die Zukunft wappnen, sich selbst neu verfassen. Und daher fangen sie dabei ganz grundsätzlich an. Sie sagen: „Die Politik scheint mit sechs der größten Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr zurechtzukommen: Umweltzerstörung, Digitalisierung, Macht der Algorithmen, systematische Lügen in der Politik, ungehemmte Globalisierung und Bedrohungen für den Rechtsstaat.“Geprägt vom immer krasser werdenden Klimawandel, von den die EU bedrohenden populistisch-autoritären Auswüchsen, den systematischen Lügen von Donald Trump und Co, bedroht von der schwer zu begrenzenden Macht des Plattformkapitalismus, geht es ihnen um eine geschützte Umwelt, ein selbstbestimmtes Internet, um vertrauenswürdige, nicht bedrohliche Maschinen, um gute Lieferketten. Und es geht – letztlich – darum, diese Grundrechte auch einklagen zu können. Denn das, so ist von Schirach überzeugt, hat zum Beispiel das Grundgesetz in Deutschland nach dem Krieg so populär gemacht. Nur: „Die alten Verfassungen Europas kennen auf die enormen Umwälzungen der letzten Jahre keine klaren Antworten.“
Nun könnte man einwenden: Was soll das? Es gibt die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“. Sie ist seit Dezember 2009 in Kraft. Von Schirach schreibt: „Diese Charta der Grundrechte ist eine sehr fein austarierte Vereinbarung, sie basiert auf der Menschenrechts
konvention, der Sozialcharta, den Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten und der Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshöfe. Sie gibt, wenn man so will, den Geist der Verfassungen und des Rechts aller Länder der Europäischen Union wieder.“Zugleich aber wendet von Schirach ein, habe dieser „brillante Kompromiss“nicht jene Kraft der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 entfaltet. Oder die der Menschenrechtserklärung von 1789, im französischen Revolutionsjahr. Von Schirach schreibt weiter: „Auch heute wissen nur zwölf Prozent der Menschen in Europa, was diese Charta überhaupt ist. Und selbst wenn EU-Staaten sie systematisch verletzen, kann sie nicht vor den Europäischen Gerichten einge
werden.“Es soll sich also etwas ändern. Grundsätzlich. Grundrechtlich.
Zum Beispiel soll es das Recht geben, in einer „gesunden und geschützten Umwelt“zu leben. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Wenn man mit Bijan Moini, Jurist, Schriftsteller, Bürgerrechtler und eben einer der Mitstreiter von Schirachs, spricht, erklärt er die Notwendigkeit dafür so: Juristen wie Politiker diskutieren schon seit Jahrzehnten, ob es ein entsprechendes Grundrecht geben soll. Die Charta der EU-Grundrechte enthält bislang nur – in Artikel 37 – ein „Ziel zur Verbesserung der Umweltqualität, jedoch kein Recht der Menschen“. Und die Europäische Menschenrechtskonvention
kenne noch nicht einmal den Begriff „Umwelt“. Moini sagt: „Der erste Impuls beim Umweltschutz, aber auch bei den anderen von uns vorgeschlagenen Rechten, ist oft: Geht das nicht schon mit bestehendem Recht, kann man das nicht schon daraus ableiten? Aber ganz viele Dinge stehen eben nicht in den Verfassungen und man kann sie daraus gerade nicht ableiten.“Sehr viele Klagen scheiterten nach wie vor an unzureichenden Umweltschutzgesetzen. Erst jüngst habe der Europäische Gerichtshof wieder eine entsprechende abgewiesen. „Dass das Bundesverfassungsgericht nun vor einigen Tagen einer Klimaschutzklage teilweise stattgegeben hat, wird zu Recht als revolutionär gefeiert. Doch das Gericht musste mühklagt sam neue Maßstäbe entwickeln, auf ein Umwelt-Grundrecht konnte es sich nicht stützen. Und der Europäische Gerichtshof war eben nicht so mutig wie das Bundesverfassungsgericht.“Mit einem eigenständigen EU-Grundrecht käme ein ganz anderer Druck dahinter.
Ulrich Karpenstein, Europa- und Verfassungsrechtler aus Berlin und ebenfalls bei „Jeder Mensch“engagiert, erklärt das vorgeschlagene Grundrecht so: „Als Juristen setzen wir erst einmal darauf, dass Grundrechte auch ohne Gerichte gewahrt werden. Wer aber neben einer Müllkippe lebt, die zum Himmel stinkt, muss nicht warten, bis er krank wird. Er kann vor einem nationalen Gericht dagegen klagen. Bei systematischen – also stetig wiederkehrenden – Rechtsverletzungen kann er vor die EU-Gerichte ziehen. Wenn also zum Beispiel Klimaschutzgesetze ersichtlich nicht ausreichen, unseren Kindern eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen. Noch ist das in Europa nicht gewährleistet. Wir wollen die Politik und den Rahmen, in dem sie handelt, real verändern.“
Was ist für ihn heute die EU? Karpenstein sagt: „Sie ist für mich immer noch eine real gewordene Utopie, soweit es um den Frieden in Europa und die Sicherung von Freiheiten geht. Sie ist auf der anderen Seite aber in großer Gefahr, weil sie das, was die Europäerinnen und Europäer heute von ihr erwarten, nicht mehr erfüllen kann. Unser rechtlicher Rahmen wird den großen Herausforderungen der Zeit nicht mehr gerecht. Ein ,Weiter so‘ ist für die EU keine Option. Der Brexit zeigt es. Und in Frankreich steht Marine Le Pen in Meinungsumfragen schon wieder ganz vorn.“
Wenn an diesem Wochenende wieder der Europatag begangen wird, kann man auch auf die neue EU-Plattform gehen, wo Bürger ihre Ideen zur Zukunft des Kontinents einbringen können. Die Initiative „Jeder Mensch“wird sich auch da sicher engagieren. Sie hat gerade erst angefangen mit einer paneuropäischen Diskussion. Karpenstein sagt: „Wir brauchen eine breite europäische Öffentlichkeit zu unserer Zukunft, zu unserem Europa. Wir haben sonst ja nichts. Unter www.jeder-mensch.eu wollen wir die drängendsten Fragen, die nach der Pandemie zu lösen sind, gemeinsam debattieren. Wir werfen jetzt erst mal einen Stein ins Wasser. Dann sehen wir, welche Wellen er auch in anderen EU-Staaten schlägt.“
Eine dieser Wellen kam schon vor 18 Jahren an einem bretonischen Strand an. Da saßen Erasmus-Studenten vom nahen IEP Rennes und diskutierten wieder mal darüber, wie dringend Europa, endlich, eine gemeinsame Öffentlichkeit braucht. Weil nur so wirkliche Identität entstehen kann. Auch das ist schon viel zu lange her.
OFerdinand von Schirach „Jeder Mensch“, Luchterhand Literaturverlag.