Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Sophie Scholl: Der Mensch hinter der Ikone
Wie war sie wirklich? Dieser Frage gehen Biografien nach, vor allem jetzt vermehrt, zum 100. Geburtstag. Drei Autoren mit ihren eigenen, ziemlich unterschiedlichen, mitunter auch kritischen Perspektiven auf Sophie Scholl
Es geht um ein und dieselbe Person: Sophie Scholl. Und es sind die drei gleichen Fragen, die wir drei ihrer aktuellen Biografen vorgelegt haben. Ihre Antworten eröffnen drei Perspektiven.
Gibt es neue Erkenntnisse über Leben von Sophie Scholl? Und welche halten Sie generell für besonders wichtig?
Haben Sie eine Lieblingsfoto2grafie
von Sophie Scholl? Und was sehen Sie mit all Ihrem Wissen über die Person, wenn Sie dieses Bild vor Augen haben?
Welche Botschaft halten Sie gerade heute für die entscheidende in der Erinnerung an diesen Menschen?
Maren Gottschalk: Sie war sehr streng mit sich selbst
Es ist immer spannend, wenn
Berichte, von denen unklar ist, ob sie wahr sind oder nicht, überprüfen kann. Ich konnte Sophie Scholls Schulfreundin Anneliese Dorzback, die heute in den USA lebt, zu einer solchen Geschichte befragen. Seitdem ist klar: Sophie Scholl hat sich wirklich darüber empört, dass ihre jüdischen Freundinnen in der Hitlerjugend nicht mitmachen durften. Sie hatte zu der Zeit, wie viele andere, noch gar nicht begriffen, welcher Ungeist hinter dieser Organisation stand. Anneliese Dorzback erinnert sich an eine Sophie Scholl, die spontan und mitfühlend war.
Eine andere Entdeckung betrifft Sophie Scholls Beziehung zu ihrem Freund Fritz Hartnagel. Sie brauchte seine Nähe und suchte doch immer wieder die Distanz. Auch zu diesem Rätsel habe ich Antworten gefunden.
Was man nicht vergessen darf: Erst seit etwa 20 Jahren können wir die Briefe und Tagebücher von Sophie Scholl im Münchener Institut für Zeitgeschichte studieren. Nun wird das Bild, das wir von ihr haben, Stück für Stück schärfer. Wenn man ihre Tagebücher liest, versteht man, wie kompliziert ihre Persönlichkeit war: Sie war sehr streng mit sich selbst, und während ihrer Zeit im Reichsarbeitsdienst hat sie sich manchmal schon fast selbstquälerisch hinterfragt.
Ich liebe das Foto, das auf dem
meiner neuen Biografie abgebildet ist. Denn hier sieht Sophie Scholl uns so lebendig und froh an, ein bisschen frech und neugierig. Ich muss dann immer daran denken, wie sehr sie das Leben geliebt hat und was sie noch alles vorhatte. Wie gerne sie gelacht hat! Diese Sophie dürfen wir nicht vergessen, sie steht oft im Schatten der Widerstandskämpferin.
Sophie Scholl hätte den Krieg
können, wenn sie sich zurückgezogen und weggeduckt hätte. Sie hätte sagen können „irgendwer wird sich schon verantwortlich fühlen und etwas gegen das Unrechtsregime tun!“Doch genau das hat sie eben nicht getan. Stattdessen hat sie ihr eigenes Glück dem Widerstand untergeordnet und gesagt: „Ich muss etwas tun, damit ich nicht schuldig werde.“Das erforderte Mut und Entschiedenheit. Wir können daraus lernen, unsere eigene Demokratie und unsere Werte entschieden zu verteidigen, wenn wir sie in Gefahr sehen.
Ihr Buch
Maren Gottschalk: Wie schwer ein Menschenleben wiegt – Sophie Scholl. C. H. Beck, 347 Seiten, 24 Euro
Robert M. Zoske: Sie war verletzbar und auch verletzend
Vor neuen Erkenntnissen müs1sen
alte Legenden überprüft werden. Einige lauten: Sophie Scholl habe sich für ihre jüdische Klassenkameradin Luise Nathan vehement eingesetzt. Sie sei im Herbst 1937 von der Gestapo verhaftet worden. Als Pazifistin habe sie sich schon früh gegen den Nationalsozialismus gewandt, sie sei Mitverfasserin der Flugblätter und die zentrale Gestalt der „Weißen Rose“gewesen.
Keine dieser Fabeln hält einer historisch-kritischen Analyse stand: Luise Nathans Tochter berichtet, ihre Mutter habe stets bestritten, dass die nazibegeisterte Sophie ihr nahe- oder beigestanden habe. Sophies Schwester Elisabeth versichert, lediglich die Geschwister Werner und Inge seien inhaftiert worden. Sophie forderte, die Franzosen sollten Paris bis zum letzten Schuss verteidigen, da es um die Ehre gehe; sie begrüßte die Gewalt der SS in Amsterdam, weil dadurch die Fronten geklärt würden, und sie wäre bereit gewesen, Hitler zu erschießen. Sophie war viele Jahre ein begeistertes, fanatisches Hitlermädchen. Klassenkameradinnen beschreiben die 16-Jährige als gefürchtete „150-prozentige Anhängerin des Nazi-Regimes“. Sie blieb freiwillig über das achtzehnte Lebensjahr hinaus Mitglied im Bund Deutscher Mädel, besuchte regelmäßig die Heimabende und ermunterte noch 1941 eine Freundin, es ihr gleich zu tun. Von den ersten vier Flugblättern erfuhr sie von ihrem Bruder erst im Nachhinein. 65 Prozent der sechs Flugschriften sind von Hans Scholl, er war der führende Kopf der „Weißen Rose“.
Zu neuen Erkenntnissen führt der Blick hinter die mit Legenden umkränzte, museale Ikone. Es ist der Blick auf den Menschen, jene junge Frau, die Liebe und Freundschaft auf äußerst verwirrende und widersprüchliche Weise erlebte, die hohe Ideale hatte und nur langsam erkannte, dass der Nationalsozialismus sie aufs Brutalste verriet. 1942 schreibt sie: „Habe ich geträumt bisher? Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht.“Sophie Scholls Tagebucheintragungen und Briefe zeigen sie nicht als Figur und Fiktion, sondern als verletzbaren und verletzenden Menschen: mit- und zartfühlend, spirituell, um Glauben und Liebe ringend, unsicher, zweifelnd, aber auch willkürlich, unausstehlich, gehemmt, eine, die zwischen hoher Begeisterung und tiefer Niedergeschlagenheit wankte.
Ich habe keine Lieblingsfotogra2fie,
aber ich nenne mein Buch ein „Porträt“, weil ich versucht habe, mit Worten ein Bild von Sophie zu malen. Entstanden ist ein leuchtendes, farbintensives Gemälde: Fröhliche Farben für die unbeschwerte Jugendliche, schrille für die schwierige Beziehung zu ihrem Freund, dem Offizier Fritz Hartnagel, zarte für ihre Liebe zu Lisa Remppis und zur Natur, dunkle für ihre schwermütigen, angstbeladenen und todessehnsüchtigen Züge und warme für ihren unbedingten Willen, an Gott zu glauben. Dieses Bild habe ich vor Augen.
Für mich bleiben von der „Wei3ßen
Rose“drei Ermutigungen: Keine Politik, Ideologie oder gesellschaftliche Norm ist alternativlos. Glaube gibt die Kraft zu einem starken Charakter, zu Widerstand und Freiheitskampf. Jede und jeder kann ihrem und seinem Gewissen, kann Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Sein Buch
Robert M. Zoske:
Sophie Scholl – Es reut mich nichts: Porträt einer Widerständigen. Propyläen, 448 Seiten, 24 Euro