Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ballett: Skandal in Paris
Drei Tipps für Kultur im weltweiten Netz
Werner Milstein: Sie konnte sich an der Natur freuen
Als ich mein erstes Buch über
Scholl (2006) geschrieben habe, waren einige Zeit zuvor die Verhörprotokolle veröffentlicht worden. Das gab einen wichtigen Einblick in die letzten Tage der Geschwister Scholl und Christoph Probsts. Seitdem ist die Quellenlage erheblich besser geworden, vor allem weil die älteste Schwester Inge Aicher-Scholl ihr umfangreiches Archiv dem Institut für Zeitgeschichte übergeben hat. Hinzu kommen der Briefwechsel mit Fritz Hartnagel und andere Dokumente. Dennoch, oft genug sind wir auf Vermutungen angewiesen. Über Sophie Scholl schreiben ist im Grunde der Versuch einer Annäherung. Mich hat die frühe Zeit beschäftigt, ihre Prägung durch die Mutter zum Beispiel – das Verhältnis war lebenslang sehr eng gewesen. Oft gingen sie spazieren und unterhielten sich über Fragen des Lebens und des Glaubens: diese Frau aus dem Württemberger Pietismus, in dem sich eine tiefe Frömmigkeit mit einer tatkräftigen Nächstenliebe verbunden hatte, und die Tochter, die um einen Glauben rang, der im Leben auch zu Konsequenzen führt. Es ist Sünde, wenn ich das Richtige, das ich erkannt habe, nicht tue – so findet es sich in ihrem Katechismus, so hat sie es wohl auch gelernt – das hat sie bis zuletzt beschäftigt. Zunächst ist es die berühmte
am Münchener Ostbahnhof. Da war ich etwa neun Jahre, da sah ich das Foto zum ersten Mal, und es hat sich mir tief eingeprägt. Jetzt ist es das Bild, in dem Sophie Scholl mit ihrem Bruder Werner zu sehen ist. Sie schaut ihn, Blumen in der Hand, geradezu bewundernd an, und er sieht etwas verschmitzt zu ihr. Beide hatten ein inniges Verhältnis zueinander gehabt, als Kind gingen sie Hand in Hand über die Wiese. Ihr Bruder Werner lehnte von Anfang an den Nationalsozialismus ab, er war der Einzige der SchollKinder, der nicht freiwillig zur Hitlerjugend ging; der Einzige, der nicht aufstieg, und der Einzige, der die HJ verließ. Der Justitia vor dem Landgericht hat er mit einer Hakenkreuzfahne die Augen verbunden. Da war noch nicht zu ahnen, welche Bedeutung dieses Symbol einmal haben wird. Mit den Eltern war Werner im Gerichtssaal gewesen, als seine Geschwister von Roland Freisler verhört wurden. Nach der Beerdigung seiner Geschwister musste er nach Russland zurück, wo er umkam. In den Darstellungen kommt er nur am Rande vor, aber dieses Bild hat mich neugierig gemacht. Einfach gefragt: Konnte bei diesem engen Verhältnis Sophie Scholl eine so glühende Anhängerin des Nationalsozialismus sein?
„Man muss einen harten Geist
ein weiches Herz haben“, das war ihr Wahlspruch gewesen. Das bedeutet, dass wir nüchtern und sachlich die Situation analysieren und entschieden handeln sollen. Zum anderen sollen wir auch mit den Menschen, den Tieren, ja der ganzen Schöpfung mitempfinden. Das hat nichts mit Sentimentalität zu tun, sondern mit einem tiefen Erleben dieser Welt. Sie konnte sich an der Natur freuen, sie liebte Kinder, noch zuletzt freute sie sich auf den Frühling. Beides zusammen, diese ausgeprägte Nüchternheit und die starke Empathie, sind die entscheidenden Pole ihres Lebens gewesen. Dass sie mutig war, dass sie entschieden in ihrem Widerstand war, das ist oft genug geschrieben und beschworen worden. Mir ist ihr Wahlspruch immer wichtiger geworden. Ich denke, der schützt auch davor, sie zu vereinnahmen und zu instrumentalisieren. Das geschieht bekanntlich bis in die Gegenwart hinein. Sie würde sich dagegen wehren, in aller Deutlichkeit und zu Recht.
Sein Buch
Werner Milstein: Einer muss doch anfangen! – Das Leben der Sophie Scholl. Gütersloher Verlagshaus, 208 Seiten, 15 Euro
Einmal pro Woche präsentieren wir an dieser Stelle Streaming-Tipps – solange der Lockdown unter anderem die Theater- und Konzerthäuser geschlossen hält.
● Ballett Das einst skandalumwitterte Ballett Le sacre du printemps („Das Frühlingsopfer“) von Igor Strawinsky erlebt in einer Interpretation des Hessischen Staatsballetts Wiesbaden am Mittwoch, 12. Mai, 19 Uhr, seine digitale Premiere. Vor der Choreografie von Edward Clug befasst sich im ersten Teil des Abends Bryan Arias mit der Pariser Uraufführung am „29 May 1913“– so der Titel seiner Choreografie. Die Gesamtproduktion hatte 2020 den Theaterpreis „Der Faust“erhalten. Es dirigiert Generalmusikdirektor Patrick Lange. Zum genannten Termin kostenlos abrufbar über die Website des Theaters:
● Schauspiel Erzählung, Drama und choreografische Ausdrucksformen führt das Vorarlberger Landestheater für seine Produktion des literarischen Bestsellers „Schlafes Bruder“von Robert Schneider zusammen. Inszenierung und Choreografie: Teresa Rotemberg. Die digitale Premiere findet am Freitag,
14. Mai, 19.30 Uhr, auf dem Youtube-Kanal des Vorarlberger Landestheaters beziehungsweise über die Website der Bühne statt. Abrufbar für 24 Stunden unter:
● Konzert Ende April feierte der renommierte Dirigent Zubin Mehta seinen 85. Geburtstag. Er selbst dirigierte dazu die Staatskapelle Berlin, deren Ehrendirigent er seit 2014 ist. Auf dem Programm standen Franz Schuberts achte Sinfonie in C-Dur sowie das vierte Klavierkonzert in G-Dur von Ludwig van Beethoven mit dem Kollegen Daniel Barenboim am Flügel. Die Aufzeichnung ist digital bis 29. Mai abrufbar unter