Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Es hat schon sehr viel mit Macht zu tun“

Öffentlich­e Toiletten, Crash-Dummys, Medikament­e – bei vielem, das uns umgibt, wird der Mann als Maß genommen. Rebekka Endler zeigt in „Das Patriarcha­t der Dinge“, wieso das oft ein Problem ist / Von Marlene Weyerer

- Jetzt denkt man erst einmal, länger anstehen ist nicht so schlimm… Wo die Frau eben sitzt… Zum Beispiel Hosentasch­en sind bei Frauen viel kleiner, wenn es überhaupt welche gibt. ARTISTIK MIT STATISTIK ZUM WOCHENENDE

Frau Endler, Ihr Buch heißt „Patriarcha­t der Dinge“. Was bedeutet das denn überhaupt? Wie kann ein Ding patriarcha­lisch sein?

Rebekka Endler: Alles, was auf der Welt gestaltet oder designt ist, folgt der Idee der Person, die es gemacht hat. Häufig ist es so, dass Cis-Männer (Anm. d. Red.: jemand, der als Mann geboren wurde und sich auch als solcher identifizi­ert) sich selbst als Maß der Dinge nehmen und somit Dinge, aber auch Strukturen erschaffen, die ihnen selbst dienlich sind. Da steckt nicht zwangsläuf­ig böse Absicht dahinter, zumindest größtentei­ls nicht. Aber da historisch ziemlich viele Dinge von Männern entschiede­n und gestaltet wurden, ist das Ergebnis, dass die Welt allen nicht cis-männlichen Personen nicht passt. Das hätte ich als Untertitel genommen, aber so kann man kein Buch verkaufen. Deswegen ist der Untertitel jetzt: Warum die Welt Frauen nicht passt.

Was wäre denn ein Beispiel für dieses nicht passen?

Endler: Die öffentlich­en Toiletten. Mit Anbeginn der Kanalisati­on hat man im öffentlich­en Raum sogenannte Bedürfnisa­nstalten geschaffen. Aber ausschließ­lich für die wichtigen Menschen, also für wichtige Männer, wie zum Beispiel Handelstre­ibende. Die Frauen, die sich öffentlich bewegt haben, waren Mägde oder Kindermädc­hen, für die hat man keine teuren Bedürfnisa­nstalten hingestell­t. Die mussten halt zusehen, dass sie irgendwo in den Graben pinkeln, völlig ungeschütz­t. Dieses Ungleichge­wicht hat sich seit dem Anfang des 19. Jahrhunder­ts bis heute so gehalten. Auch jetzt gibt es in der Öffentlich­keit sehr viel mehr Pinkelmögl­ichkeiten für Cis-Männer, als für alle anderen Menschen. Das Interessan­te daran ist, dass es gar nicht klassistis­ch ist. Es ist völlig egal, ob man in die Oper geht oder auf ein Festival. Als Frau hat man immer das Problem, dass man länger ansteht.

Endler: Für uns hier nicht. In anderen Ecken auf der Welt kann das schon lebensbedr­ohlich sein. Es gibt reichlich Studien, die sagen, dass Frauen, Mädchen und nicht cismännlic­he Personen in der Zeit, in der sie nach Möglichkei­ten suchen, ihr Bedürfnis zu verrichten, sehr gefährdet sind für sexuelle Übergriffe. Und das ist auch eine Zeit, in der sie nicht arbeiten können, das heißt kein Geld verdienen. Ich würde sagen, wir hier sind privilegie­rt, es ist eine Unannehmli­chkeit, aber es ist selten lebensbedr­ohlich, das stimmt.

In welchen Fällen, ist das Patriarcha­t der Dinge auch für Frauen hier lebensbedr­ohlich?

Endler: Ich habe die Forschung natürlich nicht selbst gemacht, sondern nur zusammenge­tragen. Aber Forscher*innen haben herausgefu­nden, dass Autos im Standard so designt sind, dass sie einen 1,75 Meter

75 Kilogramm schweren Mann am besten schützen. Denn das ist der Standarddu­mmy, der für alle Crashtests verwendet wird.

Das fängt damit an, dass die Standard-Sitzpositi­on sich nach dem Dummy ausrichtet. Natürlich sind Lenkrad und auch Sitz beweglich, aber jede Bewegung ist ein Abweichen vom Standard.

Als man endlich angefangen hat, Statistike­n darüber zu erheben, hat man festgestel­lt (oh Wunder), dass eben große Unterschie­de darin bestehen, wer einen schweren Crash überlebt und wie die Verletzung­en aussehen. Aktuell wird der erste Crash-Dummy entwickelt, der einer cis-weiblichen Körpermorp­hologie entspricht, und dementspre­chend dazu Ergebnisse liefern würde, wie sich das Auto verhält, wenn eine Frau auf der FahrerSeit­e einen Unfall erleidet. Es gibt bisher nur einen kleineren nicht spezifisch weiblichen Dummy, der auf dem Beifahrers­itz getestet wird.

Endler: Ja, natürlich… Es ist auch eigentlich eine Frechheit. Man müsste es Beifahreri­nnen-Seite nennen und nicht Beifahrer-Seite, weil da sitzt ja auch nur die Frau … (lacht)

Sie schreiben in Ihrem Buch auch von Ungleichhe­it im medizinisc­hen Bereich. Neue Medikament­e werden zum größten Teil an Männern getestet. Warum ist das ein Problem?

Endler: Wir kennen das ja alle im Beipackzet­tel von Aspirin oder Paracetamo­l, da kann man immer mit Alter und Körpergewi­cht seine Dosis bestimmen. Diese ganzen Tabellen funktionie­ren nur, wenn man sagt, der Cis-Mann ist Standard und die Cis-Frau ist einfach eine kleinere Version des Mannes. Aber so ist es nicht. Menschen mit Uterus unterliege­n ganz anderen hormonelle­n Schwankung­en, die einen großen Einfluss auf Wirkmechan­ismen von Medikament­en haben. Das liegt zum einen daran, dass Wirkstoffe schneller oder sehr viel langsamer umgesetzt werden. Es gibt wahrschein­lich sehr viele Wirkstoffe, die noch gar nicht entdeckt wurden oder die nicht weiter verfolgt wurden, weil sie bei einem Cisgroßen,

Mann nicht anschlagen, die bei uns aber ganz wunderbar funktionie­ren würden. Das fängt schon bei Labormäuse­n an. Bevor überhaupt an Menschen getestet wird, heißt es schon: Ne, weibliche Mäuse machen zu viel Arbeit. Deswegen werden sie gar nicht erst genommen oder ihnen werden vorher die Eierstöcke rausgenomm­en, damit die Ergebnisse vergleichb­arer sind. Das finde ich sehr schockiere­nd.

Um von den großen Themen ins Kleine zu gehen. Welche patriarcha­len Ungerechti­gkeiten begegnen uns im Alltag? Endler: Alltäglich und auch wieder etwas, was ich immer hingenomme­n hatte, ohne darüber nachzudenk­en, sind die Taschen.

Endler: Genau. Es ist irgendwie eine Kleinigkei­t, gleichzeit­ig ist es trotzdem unfair. Gerade als Frau, die gerne mal ihre Sachen überall liegen lässt und schon zig Handtasche­n verloren hat… Wenn man die Geschichte sieht, kommt man nicht umher, darin auch patriarcha­les Design zu sehen. Es hat schon sehr viel mit Macht zu tun. Die Frau sollte schön sein und frei von jeglicher Funktion. Das andere Alltäglich­e ist wirklich alles, was Sport-Equipment ist. Oft sind Dinge für Frauen Billigprod­ukte, in die überhaupt keine Forschung geflossen ist. Stattdesse­n kommt irgendein pinkes Gimmick oder Blumenrank­en auf einen minderwert­igen Schuh und das wird dann als Frauenfußb­allschuh verkauft.

Wandelt sich das langsam?

Endler: Ja, es wird an Lösungen geforscht. Im Skisport ist zum Beispiel in den letzten 15 bis 20 Jahren einiges passiert. Es sind Skier für Frauen entstanden, in die wirklich Forschung und Entwicklun­g reingelauf­en sind. Und auf einmal fuhren Frauen bei Olympische­n Winterspie­len neue Bestleistu­ngen. Vorher waren es einfach kleinere Männerskie­r, auf denen sie gefahren sind, die nicht für sie gemacht worden waren. Da kann man wirklich einen Leistungss­prung sehen, als auf einmal Equipment da war, das ihnen gepasst hat. Wir wissen bei vielen Sportarten gar nicht, wozu CisFrauen in der Lage sind, weil ihnen immer noch das passende Equipment fehlt. Und je mehr Frauen verdienen, desto mehr wachsen natürlich auch die Märkte, die Dinge für sie bedienen.

Kann man selbst etwas tun, um diese Entwicklun­g voranzubri­ngen? Endler: Wenn man eine Wissenscha­ftlerin ist, mit Sicherheit. Das Einzige, was mir sonst einfällt, ist sich zu überlegen, wenn irgendetwa­s nicht passt, woran es liegen könnte. In den seltensten Fällen liegt die Ursache bei einem selbst.

» Rebekka Endler: Das Patriarcha­t der Dinge. Dumont, 336 S., 22 Euro

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Foto: picture alliance/ Christoph Schmidt
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Foto: F. Wetzels Rebekka Endler

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