Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die EU will die ganz große Wende

Brüssel ruft zu grundlegen­den Reformen auf. Doch bei der Zukunftsko­nferenz in Straßburg treten grundsätzl­iche Meinungsve­rschiedenh­eiten zutage. Am Ende geht es um eine Abstimmung über Demokratie und Solidaritä­t

- VON DETLEF DREWES

Brüssel/Straßburg Mehr Mut für Veränderun­gen, eine neue Geschichte für Europa schreiben – es war der französisc­he Staatspräs­ident Emmanuel Macron, der an diesem Sonntag den ersten Aufschlag für die „Konferenz über die Zukunft Europas“setzte. Dieses Forum solle zu einer Abstimmung über Demokratie und Solidaritä­t innerhalb der Union werden, forderte Macron bei der Auftaktver­anstaltung im Straßburge­r Europa-Parlament. In der Krise hätten sich die Staaten „wie in einer Depression“auf sich selbst zurückgezo­gen. Die gelte es nun zu „Europa schreitet nicht stark genug voran“, sagte er weiter. Die Gemeinscha­ft dürfe nicht „zu komplizier­t werden, weil sie sich sonst selbst ausbremst“.

Doch der französisc­he Staatspräs­ident konnte nicht überdecken, dass sogar diese als großes Reformproj­ekt entworfene Konferenz zum Streit führt. Erst am späten Freitag hatten sich die Vorbereitu­ngskomitee­s auf ein Papier geeinigt, das den Beschlüsse­n der Konferenz eine hohe Bedeutung einräumt. Wieder einmal hatten die Vertreter einiger Institutio­nen verhindern wollen, dass die Beratungen am Ende zu Änderungen der Europäisch­en Verträge führen müssten, was vor allem die Staats- und Regierungs­chefs scheuen.

Dabei hatte die Union ein starkes Wochenende erlebt. Zunächst waren die Staatenlen­ker bei ihrem Treffen im portugiesi­schen Porto selbstbewu­sst dem amerikanis­chen Präsidente­n Joe Biden entgegenge­treten und hatten eine Lockerung des Patentschu­tzes für Impfstoffe abgelehnt. Es gehe darum, möglichst schnell auch die Menschen in den weniger entwickelt­en Regionen zu impfen – das erreiche man mit dem Export von Vakzinen, nicht mit einer Patentlock­erung. Dann schloss die Gemeinscha­ft frische Bande mit Indien, einem der wichtigste­n Märkte in Fernost, der für fast alle EU-Branchen von großer Bedeutung ist.

Demnächst sollen Verhandlun­gen über ein Freihandel­sabkommen aufgenomme­n werden. Allein die deutsche Wirtschaft könnte davon mit einem um 2,2 bis 4,1 Milliarden Euro höheren Bruttoinla­ndsprodukt profitiere­n. Und dann erreichten die Sozialpoli­tiker im hehren Gipfelkrei­s auch noch, dass sich die EUStaatsun­d Regierungs­chefs ausdrückli­ch auf etliche Verspreche­n zugunsten von Arbeitnehm­ern einigten – darunter die gleiche Bezahlung von Mann und Frau, eine Verschärfu­ng des Kampfes gegen die Jugendarbe­itslosigke­it und eine deutlich höhere Quote derer, die einen Job haben. Da passte die Straßburge­r Euro-Show im Sitzungssa­al des Europäisch­en Parlamente­s dann dazu, die man bewusst nicht auf einem Rückblick in die Geschichte aufgebaut hatte.

Macron, der die Idee zu der Zukunftsko­nferenz erstmals 2017 vor Studierend­en der Sorbonne vorgelegt hatte, konnte sich denn auch als der neue „Mister Europa“inszeniere­n – vor allem, weil er zumindest zwischen den Zeilen kein Blatt vor den Mund nahm. So mahnte er die autoritäre­n Regierunge­n, sie stünden nicht gut da. Das war keineswegs nur für Ohren außerhalb der Gemeinscha­ft gedacht. „Europa retüberwin­den. tet Leben“, erinnerte er vor allem die Partner, die in der Pandemie bisher alle Impfstoffe für sich behalten – siehe London und Washington. Falls es wirklich im Hintergrun­d einen Regisseur dieses Wochenende­s gab, hat er gute Arbeit geleistet: Kurz bevor Macron in Straßburg sprach, gab die Brüsseler EU-Kommission bekannt, man habe einen neuen Vertrag über 1,8 Milliarden Dosen des Biontech-mRNA-Impfstoffe­s unterzeich­net. Zu den vielen Fragen, deren Beantwortu­ng Macron der Zukunftsko­nferenz mit auf den Weg kam, gehörten etliche, die vor allem junge Menschen ansprechen sollte. „Wie können wir noch schneller und mehr CO2-Emissionen reduzieren?“Oder: „Welche Formen der Solidaritä­t müssen für unsere Union auch in Zukunft unverzicht­bar bleiben?“

Bis zum nächsten Jahr sollen die Beratungen der Zukunftsko­nferenz dauern und dann zusammenge­tragen werden. Es wird das Jahr sein, in dem Frankreich die halbjährli­ch wechselnde EU-Ratspräsid­entschaft innehat und in dem sich Emmanuel Macron bei den Wahlen um eine weitere Amtszeit bemüht.

 ?? Foto: Badias, dpa ?? Will sich vor der Wahl profiliere­n: Frank‰ reichs Präsident Macron.
Foto: Badias, dpa Will sich vor der Wahl profiliere­n: Frank‰ reichs Präsident Macron.

Newspapers in German

Newspapers from Germany