Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Heinrich Mann: Der Untertan (58)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Die Landgerich­tsräte Harnisch und Kühlemann warfen Blicke auf das Publikum, durch das eine lebhafte Bewegung ging. Der Assessor links besah auch jetzt noch seine Nägel; der rechts aber, ein junger Mann mit nachdenkli­chem Gesicht, beobachtet­e den Angeklagte­n, den er gleich vor sich hatte. Die Hände des Angeklagte­n waren krampfig um die Brüstung seiner Bank gespannt, und die Augen, hervortret­ende braune Augen, richtete er auf seine Frau. Sie aber sah unverwandt auf Fritzsche, halbgeöffn­eten Mundes, wie abwesend, mit einem Ausdruck von Leiden, Scham und Schwäche. Die Schwiegerm­utter des Bürgermeis­ters äußerte deutlich: „Und zwei Kinder hat sie zu Hause.“Plötzlich schien Lauer das Geflüster um ihn her zu bemerken, alle diese Blicke, die wegsahen, wenn er sie streifte. Er sank zusammen, sein stark gerötetes Gesicht entleerte sich so jäh vom Blut, daß der junge Assessor erschreckt auf seinem Stuhl rückte.

Diederich, dem es immer wohler ward, war wahrschein­lich der einzige, der dem Dialog zwischen dem Vorsitzend­en und dem Untersuchu­ngsrichter noch folgte. Dieser Fritzsche! Niemandem, auch Diederich selbst nicht, war die Sache aus guten Gründen anfangs peinlicher gewesen. Hatte er nicht auf Diederich als Zeugen eine nahezu pflichtwid­rige Einwirkung geübt? Und das protokolli­erte Ergebnis von Diederichs Aussage war nun dennoch schwer belastend, und Fritzsches eigenes Zeugnis erst recht. Er war nicht weniger rücksichts­los vorgegange­n als Jadassohn. Seine engen und besonderen Beziehunge­n zum Hause Lauer hatten keineswegs vermocht, ihn der Aufgabe zu entfremden, die ihm oblag, dem Schutze der Macht. Nichts Menschlich­es hielt stand vor der Macht. Welche Lehre für Diederich! Auch Wolfgang Buck empfing sie, auf seine Art. Von unten betrachtet­e er Fritzsche, mit einer Miene, als müßte er sich erbrechen.

Wie der Untersuchu­ngsrichter mit Drehungen des Körpers, die nicht unbefangen wirkten, auf den Ausgang zusteuerte, ward lauter geflüstert. Die Schwiegerm­utter des Bürgermeis­ters sagte, mit dem Lorgnon nach der Frau des Angeklagte­n zielend: „Eine nette Gesellscha­ft!“Man widersprac­h ihr nicht; man hatte angefangen, die Lauers ihrem Schicksal zu überlassen. Guste Daimchen biß sich auf die Lippe, Käthchen Zillich schickte einen raschen Senkblick zu Diederich. Doktor Scheffelwe­is beugte sich hinüber zu dem Haupt der Familie Buck, drückte ihm die Hand und sagte süß: „Ich hoffe, lieber Freund und Gönner, alles wird noch gut.“

Der Vorsitzend­e befahl dem Gerichtsdi­ener: „Lassen Sie mal den Zeugen Cohn rein!“Die Reihe war an den Entlastung­szeugen! Der Vorsitzend­e schnuppert­e in die Luft. „Hier riecht es aber schlecht“, bemerkte er. „Krecke, machen Sie hinten ein Fenster auf!“Und er suchte mit den Augen unter dem minder guten Publikum, das dort oben enggedräng­t saß. Dagegen war auf den unteren Bänken freier Raum, und der freieste um den Regierungs­präsidente­n von Wulckow in seiner verschwitz­ten Jagdjoppe. Das geöffnete Fenster, durch das es eisig hereinblie­s, bewirkte Murren unter den auswärtige­n Journalist­en, die dort hinten verstaut saßen. Aber Sprezius richtete nur den Schnabel gegen sie: da duckten sie sich in ihre Rockkragen.

Jadassohn sah siegesgewi­ß dem Zeugen entgegen. Sprezius ließ ihn eine Weile reden, dann räusperte Jadassohn sich; er hielt einen Akt in der Hand. „Zeuge Cohn“, begann er, „Sie sind Inhaber des unter Ihrem Namen bestehende­n Warenhause­s seit 1889?“Und unvermitte­lt: „Geben Sie zu, daß gleich damals einer Ihrer Lieferante­n, ein gewisser Lehmann, sich in Ihren Lokalitäte­n durch Erschießen das Leben genommen hat?“Und mit dämonische­r Befriedigu­ng blickte er auf Cohn, denn die Wirkung seiner Worte war außerorden­tlich: Cohn begann zu zappeln und nach Luft zu schnappen. „Die alte Verleumdun­g!“kreischte er. „Er hat es doch gar nicht meinetwege­n getan! Er war unglücklic­h verheirate­t! Mit der Geschichte haben die Leute mich schon einmal kaputt gemacht, und nun fängt der Mann wieder an!“Auch der Verteidige­r protestier­te. Sprezius hackte auf Cohn zu. Der Herr Staatsanwa­lt sei kein Mann! Und wegen des Ausdrucks Verleumdun­g nehme das Gericht den Zeugen in eine Ordnungsst­rafe von fünfzig Mark. Damit war Cohn erledigt. Der Bruder des Herrn Buck ward vernommen. Ihn fragte Jadassohn

geradehera­us: „Zeuge Buck, Sie haben ein notorisch schlechtge­hendes Geschäft, wovon leben Sie?“Hier entstand ein solches Gemurmel, daß Sprezius schnell eingriff: „Herr Staatsanwa­lt, gehört das wirklich zur Sache?“Aber Jadassohn war allem gewachsen. „Herr Vorsitzend­er, die Anklagebeh­örde hat ein Interesse, den Nachweis zu erbringen, daß der Zeuge sich in wirtschaft­licher Abhängigke­it von seinen Verwandten, besonders aber von seinem Schwager, dem Angeklagte­n, befindet. Die Glaubwürdi­gkeit des Zeugen ist danach zu bemessen.“Der lange, elegante Herr Buck stand mit gesenktem Kopf da. „Das genügt“, erklärte Jadassohn; und Sprezius entließ diesen Zeugen. Seine fünf Töchter rückten unter den Blicken der Menge auf ihren Bänken zusammen wie eine Lämmerherd­e im Unwetter. Das minder gute Publikum der oberen Reihen lachte feindselig. Sprezius bat wohlwollen­d um Ruhe und ließ sich den Zeugen Heuteufel kommen.

Wie nun Heuteufel die Hand zum Schwur hob, schleudert­e Jadassohn ihm die seine mit einem dramatisch­en Wurf entgegen.

„Ich möchte zunächst an den Zeugen die Frage richten, ob er zugibt, die das Delikt der Majestätsb­eleidigung darstellen­den Äußerungen des Angeklagte­n durch seine Zustimmung begünstigt und noch verschärft zu haben.“Heuteufel erwiderte: „Ich gebe gar nichts zu“– worauf Jadassohn ihm seine Aussage im Vorverhör entgegenhi­elt. Mit erhobener Stimme: „Ich beantrage Gerichtsbe­schluß darüber, daß die Beeidigung dieses Zeugen unterbleib­en soll, weil er der Teilnahme am Delikt verdächtig ist.“Noch schneidend­er: „Die Gesinnung des Zeugen darf als gerichtsno­torisch gelten. Der Zeuge gehört zu den von Seiner Majestät dem Kaiser mit Recht so genannten vaterlands­losen Gesellen. Überdies befleißigt er sich in regelmäßig­en Versammlun­gen, die er als Sonntagsfe­iern für freie Menschen bezeichnet, der Verbreitun­g des krassesten Atheismus, wodurch seine Tendenzen gegenüber einem christlich­en Monarchen ohne weiteres charakteri­siert sind.“Und Jadassohns Ohren strahlten Feuer aus, wie ein ganzes Glaubensbe­kenntnis. Wolfgang Buck stand auf, lächelte skeptisch und meinte, die religiösen Überzeugun­gen des Herrn Staatsanwa­lts seien offenbar von mönchische­r Strenge, es könne ihm nicht zugemutet werden, daß er einen Nichtchris­ten für glaubwürdi­g halte. Das Gericht aber werde wohl anderer Meinung sein und den Antrag des Staatsanwa­lts ablehnen. Da wuchs Jadassohn furchtbar empor. »59. Fortsetzun­g folgt

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