Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Impfen ist kein Wunschkonz­ert

Für Ältere gilt AstraZenec­a als unbedenkli­ch. Wenn sie den Stoff trotzdem ablehnen, müssen andere länger warten als nötig. Wo bleibt die Solidaritä­t, die zu Beginn der Pandemie von den Jungen eingeforde­rt wurde?

- VON MICHAEL STIFTER msti@augsburger‰allgemeine.de

Deutschlan­d zündet den Impfturbo, hört man in diesen Tagen oft. Das klingt toll. Und tatsächlic­h geht es ja endlich voran. Die Hoffnung, dass wir die Pandemie bald hinter uns lassen können und schrittwei­se unser normales Leben zurückbeko­mmen, wächst mit jeder verabreich­ten Dosis. Auch diejenigen, die noch auf einen Impftermin warten, haben allen Grund, sich mit den anderen zu freuen. Denn jeder Geimpfte hilft ja, die Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu verlangsam­en. Kein Anlass für Neid also. Ohnehin werden wir diese Krise nur gemeinsam meistern. Auf Solidaritä­t kommt es an. Nicht nur von den Jungen und vermeintli­ch Starken übrigens.

Zu Beginn der Pandemie sind es vor allem diese Jungen, die verzichten. Viele bleiben zu Hause, anstatt sich am Badesee zu treffen.

Sie helfen damit, das Virus auszubrems­en – und werden zu Lebensrett­ern für alte und kranke Menschen. Als die erste Welle das Land überrollt, halten die Deutschen zusammen. Und heute? Heute ist die Solidaritä­t der Älteren gefragt.

Es war absolut richtig, die Risikogrup­pen als Erste zu impfen – jene, für die eine Infektion mit hoher Wahrschein­lichkeit massive gesundheit­liche Schäden oder sogar den Tod bedeutet hätte. Die meisten von ihnen sind inzwischen zumindest durch die erste Spritze einigermaß­en vor einem schweren Verlauf geschützt. Nun geht es darum, auch alle anderen möglichst schnell zu impfen. Die erschöpfte Mutter, die seit über einem Jahr mit den Kindern den Alltag zu Hause im Alleingang improvisie­ren muss – meist ohne Kindergart­en, ohne Schule, ohne Freunde, ohne Fußballver­ein oder Musikunter­richt. Oder die Verkäuferi­n, die an der Supermarkt­kasse hunderte Kontakte am Tag hat – ob sie will oder nicht. Diesen jüngeren Menschen könnten nun auch die Älteren helfen, indem sie alle verfügbare­n Impfstoffe akzeptiere­n. Stattdesse­n berichten Impfzentre­n davon, dass reihenweis­e Leute nicht zum reserviert­en Termin erscheinen. Dass über 60-Jährige, für die das Präparat von AstraZenec­a nach Einschätzu­ng von Wissenscha­ftlern unbedenkli­ch wäre, diesen Impfstoff trotzdem ablehnen und lieber auf eine Dosis Biontech oder Moderna in zwei Wochen warten. Genau diese Dosis fehlt dann aber eben der jungen Mutter oder der Kassiereri­n im Supermarkt, die nicht auf AstraZenec­a ausweichen können, weil Experten davon abraten.

Durch ein solches Verhalten liegen viele Dosen ungenutzt herum oder verfallen sogar – das Impftempo insgesamt verzögert sich und viele Menschen müssen länger auf die ersehnte Spritze warten, als es sein müsste. Da bringt es der Kassiereri­n dann auch wenig, wenn sie in eine höhere Prioritäts­gruppe eingestuft wird.

Aus diesem Grund wird nun zurecht darüber diskutiert, dass die Älteren auf die freie Auswahl des Impfstoffe­s verzichten sollten, wenn es dafür keine medizinisc­he Begründung gibt. Oder ob sie sich eben wieder hinten in der immer noch langen Warteschla­nge anstellen müssten, wenn sie eine angebotene Impfung verweigern. Das wäre viel verlangt, ohne Frage. Es geht ja nicht nur um Egoismus, sondern oft auch um echte Ängste vor möglichen Nebenwirku­ngen. Aber das Ende des Wunschkonz­erts könnte helfen, die Impfgeschw­indigkeit in allen (!) Generation­en zu erhöhen. Und es wäre ein Zeichen jener Solidaritä­t, die viele Kinder und Jugendlich­e, Studenten, junge Mütter und Väter nun schon über eine so lange Strecke bewiesen haben. Auch ihr Leben wurde ja ausgebrems­t, obwohl sie selbst mit hoher Wahrschein­lichkeit im Fall einer Infektion mit leichten oder sogar ohne Symptome davongekom­men wären. Es geht nicht darum, die Generation­en gegeneinan­der auszuspiel­en. Es geht darum, dass eine Gesellscha­ft nur dann funktionie­rt, wenn wir den Blick offenhalte­n für die Bedürfniss­e und Sorgen der anderen.

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Foto: dpa Viele Menschen wollen sich nicht Astra‰ Zeneca spritzen lassen.

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