Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Heinrich Mann: Der Untertan (60)
Er sprach es, und, meine Herren Richter, ich habe ihn gepackt und habe damit nur meine Pflicht erfüllt und würde sie auch heute wieder erfüllen, mögen mir daraus in gesellschaftlicher und geschäftlicher Beziehung selbst noch mehr Nachteile erwachsen, als ich in der letzten Zeit zu ertragen gehabt habe! Der uneigennützige Idealismus, meine Herren Richter, ist ein Vorrecht des Deutschen, er wird ihn unentwegt betätigen, mag ihm angesichts der Menge der Feinde gelegentlich auch der Mut sinken. Als ich vorhin mit meiner Aussage noch zögerte, war es nicht nur, wie der Herr Untersuchungsrichter mir gütigst zubilligte, eine Verwirrung des Gedächtnisses: es war, ich gestehe es, ein vielleicht begreifliches Zurückweichen vor der Schwere des Kampfes, den ich auf mich nehmen sollte. Aber ich nehme ihn auf mich, denn kein Geringerer als Seine Majestät unser erhabener Kaiser verlangt es von mir.“Diederich sprach fließend weiter, mit einem Schwung in den Sätzen, der einem den Atem nahm. Jadassohn fand, daß der Zeuge anfange, die Wirkungen seines Plädoyers vorwegzunehmen, und blickte unruhig auf den Vorsitzenden. Sprezius aber dachte offenbar nicht daran, Diederich zu unterbrechen. Mit unbewegtem Geierschnabel und ohne die Lider zu klappen, sah er auf Diederichs eiserne Miene, worin es drohend blitzte. Der alte Kühlemann sogar ließ die Lippe hängen und hörte zu. Wolfgang Buck aber: vorgebeugt auf seinem Stuhl, spähte er zu Diederich hinauf, gespannt, sachkundig und die Augen voll eines feindlichen Entzückens. Das war eine Volksrede! Ein Auftritt von bombensicherer Wirkung! Ein Schlager! „Mögen unsere Bürger“, rief Diederich, „endlich aus dem Schlummer erwachen, in dem sie sich so lange gewiegt haben, und nicht bloß dem Staat und seinen Organen die Bekämpfung der umwälzenden Elemente überlassen, sondern selbst mit Hand anlegen! Das ist Befehl Seiner Majestät, und, meine Herren Richter, da sollte ich zögern? Der Umsturz erhebt das Haupt, eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, wagt es, die geheiligte Person des Monarchen in den Staub zu ziehen.“
Im minder guten Publikum lachte jemand. Sprezius hackte zu und drohte, den Lacher in Strafe zu nehmen. Jadassohn seufzte. Jetzt war es Sprezius freilich nicht mehr möglich, den Zeugen zu unterbrechen.
In Netzig hatte der kaiserliche Kampfruf bisher leider nur zu wenig Widerhall gefunden! Hier verschloß man Augen und Ohren vor der Gefahr, man verharrte in den veralteten Anschauungen einer spießbürgerlichen Demokratie und Humanität, die den vaterlandslosen Feinden der göttlichen Weltordnung den Weg ebneten. Eine forsche nationale Gesinnung, einen großzügigen Imperialismus begriff man hier noch nicht. „Die Aufgabe der modern gesinnten Männer ist es, auch Netzig dem neuen Geist zu erobern, im Sinne unseres herrlichen jungen Kaisers, der jeden Treugesinnten, er sei edel oder unfrei, zum Handlanger seines erhabenen Wollens bestellt hat!“Und Diederich schloß: „Daher, meine Herren Richter, war ich berechtigt, dem Angeklagten, als er nörgeln wollte, mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Ich habe ohne persönlichen Groll gehandelt, um der Sache willen. Sachlich sein heißt deutsch sein! Und ich meinerseits“– er blitzte zu Lauer hinüber – „bekenne mich zu meinen Handlungen, denn sie sind der Ausfluß eines tadellosen Lebenswandels, der auch im eigenen Hause auf Ehre hält und weder Lüge noch Sittenlosigkeit kennt!“
Große Bewegung im Saal. Diederich, hingerissen von der edlen Gesinnung, die er ausdrückte, berauscht durch seine Wirkung, fuhr fort, den Angeklagten anzublitzen. Da aber wich er zurück: Der Angeklagte, zitternd und wankend, stemmte sich am Geländer seiner Bank empor; er hatte rollende, blutunterlaufene Augen, und sein Kiefer bewegte sich, als habe ihn der Schlag gerührt. „Oh!“machten weibliche Stimmen, voll erwartungsvollen Schauderns. Aber der Angeklagte hatte nur Zeit, einige rauhe Laute gegen Diederich auszustoßen: sein Verteidiger hatte ihn am Arm erfaßt und redete auf ihn ein. Inzwischen verkündete der Vorsitzende, daß der Herr Staatsanwalt sein Plädoyer um vier Uhr beginnen werde, und verschwand, samt den Beisitzern. Diederich, halb betäubt, sah sich auf einmal bestürmt von Kühnchen, Zillich, Nothgroschen, die ihn beglückwünschten. Fremde Leute schüttelten ihm die Hand: die Verurteilung
sei todsicher, der Lauer dürfe einpacken. Der Major Kunze erinnerte den erfolgreichen Diederich daran, daß zwischen ihnen niemals eine Meinungsverschiedenheit entstanden sei. Auf dem Korridor kam ganz nahe an Diederich, den gerade eine Menge Damen umgaben, der alte Buck vorüber. Er zog sich seine schwarzen Handschuhe an und sah dabei dem jungen Mann ins Gesicht: ohne die Verbeugung zu erwidern, die Diederich wider Willen machte, ihm immer ins Gesicht, mit einem Blick, prüfend und traurig, so traurig, daß auch Diederich, mitten aus seinem Triumph heraus, ihm traurig nachsah.
Plötzlich merkte er, daß die fünf Töchter Buck sich nicht entblödeten, ihm Komplimente zu machen. Sie flatterten, rauschten und fragten, warum er denn zu der spannenden Verhandlung nicht auch seine Schwestern mitgebracht habe. Da maß er diese fünf herausgeputzten Gänse, eine nach der andern, von oben bis unten und erklärte ihnen, streng und abweisend, es gebe Dinge, die denn doch ernster seien als eine Theatervorstellung. Erstaunt ließen sie ihn stehen. Der Korridor leerte sich; zuletzt erschien noch Guste Daimchen. Sie machte eine Bewegung auf Diederich zu. Aber Wolfgang Buck holte sie ein, lächelnd, als sei nichts geschehen; und mit ihm waren der Angeklagte und seine Frau. Schnell sandte Guste zu Diederich einen Blick hin, der sein Zartgefühl anrief. Er drückte sich hinter einen Pfeiler und ließ, indes ihm das Herz klopfte, die Geschlagenen vorüber.
Wie er gehen wollte, trat aus dem Amtszimmer der Regierungspräsident, Herr von Wulckow. Diederich stellte sich, den Hut in der Hand, am Wege auf, schlug im richtigen Augenblick die Hacken zusammen, und wirklich, Wulckow blieb stehen.
„Na also!“sagte er aus der Tiefe seines Bartes und klopfte Diederich auf die Schulter. „Sie haben das Rennen gemacht. Sehr brauchbare Gesinnung. Wir sprechen uns noch.“Und er ging weiter auf seinen kotigen Stiefeln, schwenkte den Bauch in der verschwitzten Jagdhose und hinterließ, durchdringend wie je, diesen Geruch gewalttätiger Männlichkeit, der bei allem, was geschah, im Gerichtssaal gelagert hatte.
Beim Ausgang drunten hielt sich noch immer der Bürgermeister auf, mit Frau und Schwiegermutter, die von beiden Seiten auf ihn eindrangen und deren Forderungen er, bleich und hoffnungslos, in Einklang zu bringen suchte.
Zu Hause wußten sie schon alles.
»61. Fortsetzung folgt