Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Jeder Mensch ist ein Künstler“
Was Beuys wirklich meinte
Der Satz scheint inhaltlich so ikonisch für Joseph Beuys zu stehen, wie es optisch der Hut tut: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“
Doch während man sich ordentlich anstrengen muss, um die Kopfbedeckung mit Bedeutung aufzuladen, was freilich geschehen ist: Verdeckt er eine Stahlplatte im Schädel? Nein. Gibt er nicht ein ganzes Theaterstück her: „Der Hut von Joseph Beuys“? Tatsächlich versucht. Oder ist Beuys selbst inzwischen „ein alter Hut“? Ja, haha, so wird jetzt zum Jubiläum pfiffig rumgedeutelt… Während man sich da anstrengen muss, stellte sich der Künstler dort der Frage nach der Bedeutung immer wieder selbst – bis zur letzten öffentlichen Rede, zwei Monate vor seinem Tod. In der Reihe „Reden über das eigene Land: Deutschland“trat Beuys am 20. November 1985 in den Münchner Kammerspielen auf und erklärte sich einmal mehr:
„Die Formel ‚jeder Mensch ist ein Künstler‘, die sehr viel Aufregung erzeugt hat und die immer noch missverstanden wird, bezieht sich auf die Umgestaltung des SozialLeibes, an dem nicht nur jeder Mensch teilnehmen kann, sondern sogar teilnehmen muss, damit wir möglichst schnell die Transformation vollziehen.“Der Mensch muss sich als Schöpfer erkennen, als Hebel, um zu formen, „was der Welt hilft“, nachdem „alle anderen Positionen geschichtlich verbraucht sind“: durch die Kunst. Bloß welche? Beuys weiter: „Hier liegt die
Schwelle, zwischen dem traditionellen Kunstbegriff, dem Ende der Moderne, dem Ende aller Traditionen, und dem anthropologischen Kunstbegriff, dem erweiterten Kunstbegriff, der Sozialen Kunst als Voraussetzung des Vermögens. Denn dies ist die große Fälschung, die immer wieder fabriziert wird, bösartig und bewusst entstellt wiedergegeben wird, dass, wenn ich sage: Jeder Mensch ist ein Künstler, ich sagen wolle, jeder Mensch ist ein guter Maler. Gerade das war ja nicht gemeint, sondern es war ja die Fähigkeit gemeint, an jedem Arbeitsplatz, und es war gemeint, die Fähigkeit einer Krankenschwester oder die Fähigkeit eines Landwirtes als gestalterische Potenz und sie zu erkennen als zugehörig einer künstlerischen Aufgabenstellung. Das war ja gemeint.“
So kommt es zusammen: „Der gesellschaftsökologische Ansatz beginnt bei ‚Jeder Mensch ist ein Künstler‘, also beim Freiheitsbegriff, beim Kreativitätsbegriff auf das soziale Ganze hin…“– und müsse wie zur Entwicklung des Einzelnen auch zur sich entwickelnden Selbstgesetzgebung der Gesellschaft führen… Ansonsten? Beuys endet: „Die Ursachen für zwei Weltkriege liegen in der Versklavung des menschlichen Geistes unter Staat und kapitalistischer Wirtschaft… Und es wird mit Sicherheit einen dritten geben, wenn wir nicht einen neuen Anfang machen bei der Freiheitswissenschaft, in der ‚Jeder Mensch ist ein Künstler‘ gilt, bei dem Sich-selbst-Sein und bei dem Insistieren auf dem Souverän, der in jedem Menschen steckt.“