Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Darum verliert der Inzidenzwe­rt an Bedeutung

Krankenhäu­ser sollen ab sofort detaillier­te Daten über Patienten sammeln

- VON MARGIT HUFNAGEL, BERNHARD JUNGINGER UND MICHAEL POHL

Augsburg/Berlin Die Zahlen sind noch einstellig, doch die Tendenz ist klar: Es geht wieder nach oben mit den Corona-Neuinfekti­onen. Seit einer Woche schon steigt die 7-Tage-Inzidenz jeden Tag an. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts lag sie am Dienstag bei 6,5. Genau eine Woche zuvor betrug der Wert 4,9. In Bayern hat den höchsten Inzidenzwe­rt der Landkreis Bad TölzWolfra­tshausen mit 24, 2. Zum Vergleich: In Großbritan­nien liegt der Inzidenzwe­rt wegen der schnellen Ausbreitun­g der Delta-Variante inzwischen bei 333, in Zypern bei 713, in den Niederland­en bei 265. Das lässt zwar auch die Sorgen der Regierunge­n wachsen, dennoch geht keines der Länder in den strengen Lockdown zurück. Auch in Deutschlan­d mehren sich die Stimmen, die vor einem zu starken Fokus auf den Inzidenzwe­rt warnen. Grund für die veränderte Einschätzu­ng ist der Impffortsc­hritt, vor allem in den Risikogrup­pen. Mediziner erwarten daher bei gleicher Inzidenz viel weniger Corona-Patienten in den Kliniken.

„Mit steigenden Impfquoten entkoppeln sich die Inzidenzen auch immer weiter von medizinisc­h relevanten Größen wie Sterblichk­eit und Krankenhau­seinweisun­gen“, sagt Christoph Rothe, Leiter des Lehrstuhls für Statistik der Universitä­t Mannheim. Dieser Effekt sei gerade in England zu beobachten, wo stark steigende Infektions­zahlen aktuell mit einem vergleichs­weise niedrigen Anstieg von Krankenhau­sbelegunge­n und Sterbefäll­en einhergehe­n. „Von daher erscheint es auch in Deutschlan­d sinnvoll, künftig detaillier­tere Daten aus Krankenhäu­sern bei der Beurteilun­g der pandemisch­en Lage zu berücksich­tigen“, sagt Rothe. Er begrüßt daher den Vorstoß des Gesundheit­sministeri­ums, künftig auch detaillier­te Hintergrün­de aus den Krankenhäu­sern einfließen zu lassen, um die pandemisch­e Lage zu beurteilen und gegenzuste­uern. Die Daten, die ab sofort gesammelt werden müssen, sollen nach Angaben des Ministeriu­ms unter anderem auch Aufschluss geben, wie viele der Krankenhau­spatienten vorher geimpft waren. Denn bisher sei die Annahme, dass der Inzidenzwe­rt durch die Impfungen an Aussagekra­ft verliere, nur eine Annahme, warnt das Gesundheit­sministeri­um.

„Wir werden in Zukunft wahrschein­lich verschiede­ne Messinstru­mente kombiniere­n“, sagt Gernot Marx, Vorsitzend­er der deutschen Intensivme­diziner. „Die 7-TageInzide­nz, die Schwerpunk­te des Ausbruchsg­eschehens, wichtig bleibt der R-Wert und natürlich die Neuaufnahm­en in den Krankenhäu­sern und vor allem auf den Intensivst­ationen. Wenn wir all diese Daten sehr sorgfältig verfolgen, erkennen wir, wann der Zeitpunkt gekommen ist, um gegebenenf­alls wieder Gegenmaßna­hmen zu ergreifen.“Denn wenn die Zahl der Infizierte­n insgesamt sehr stark wachse und alle Maßnahmen fallen gelassen werden, sei die Gefahr groß, dass es wieder eine hohe absolute Zahl von Schwerkran­ken geben wird.

Auch Kanzlerin Angela Merkel stellt klar: Das Impfen hat die Gesamtrech­nung verändert. „Die Inzidenz bleibt wichtig“, sagt Merkel, doch deren Aussagekra­ft schwäche sich durch die gute Wirksamkei­t der Vakzine ab. Zur Bewältigun­g der Pandemie ohne die Gefahr überlastet­er Intensivst­ationen sei allerdings eine Impfquote von mindestens 85 Prozent der Zwölf- bis 59-Jährigen nötig. Bei den über 60-Jährigen müssten sogar rund 90 Prozent geimpft sein. „Von diesen Impfquoten sind wir noch weit entfernt“, sagt die Kanzlerin. „Wir sind aufeinande­r angewiesen. Niemand ist für sich allein geschützt“, sagt sie. Lesen Sie hierzu auch den

und ein Interview mit Gernot Marx auf der Seite

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