Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Jedes Licht ein Schicksal

Die Entdeckung hunderter unmarkiert­er Gräber legt eines der dunkelsten Kapitel kanadische­r Geschichte offen. Tausende indigene Schulkinde­r wurden einst geschlagen und sexuell missbrauch­t. Warum nun Papst Franziskus offiziell um Entschuldi­gung bitten soll

- VON GERD BRAUNE

Regina Vivian Ayoungman sitzt mit ihrer Schwester Angeline auf der Treppe, die in die frühere „Old Sun Indian Residentia­l School“führt. Neben den Frauen, die der Siksika First Nation in Kanada angehören, liegen dutzende Stofftiere. Sie wurden im Gedenken an die Kinder niedergele­gt, die in diese und andere Schulen gingen – und das nicht überlebten. In den vergangene­n Monaten sind wiederholt Gräber indigener Kinder gefunden worden, hunderte und nicht markiert. Die Gräber der namenlosen Kinder sind stille Zeugen einer brutalen Vergangenh­eit, von Rassismus und Diskrimini­erung. Die Funde haben weltweit Schlagzeil­en gemacht, sind ein Politikum – und setzen den Papst unter Druck. Er soll jetzt um Entschuldi­gung bitten. Endlich.

Vivian Ayoungman und ihre Schwester mussten in den 1950er Jahren die „Old Sun Indian Residentia­l School“, etwa 70 Kilometer östlich von Calgary, besuchen. Sie sind alt geworden, vergessen können und wollen sie nicht. Vivian Ayoungman war sieben, als sie an die Schule kam. Sie sprach damals kein Englisch. Einmal, während der Pause, rief sie einem anderen Kind etwas zu. In ihrer Blackfoot-Sprache. „Sofort hörten wir die Trillerpfe­ife.

Wir wussten, irgendjema­nd hat nun ein Problem“, erzählt sie. Es war Vivian. „Der Aufseher kam auf mich zu, packte und schüttelte mich, weil ich Blackfoot sprach.“Sie wurde zum Direktor geführt und erhielt Schläge auf die Hand. Als sie zu den anderen zurückkehr­te, standen diese in einer Reihe und durften nicht spielen. Eine Kollektivs­trafe. Sie sollten lernen: „Das passiert euch, wenn ihr eure Sprache sprecht“, sagt Vivian Ayoungman.

Residentia­l Schools waren in Kanada Internatss­chulen, die vom Staat eingericht­et, aber überwiegen­d von Kirchen und Ordensgeme­inschaften geführt wurden. Sie dienten nach der Staatsgrün­dung 1867 dem Ziel, die Kinder der Ureinwohne­rvölker in den von europäisch­en Einwandere­rn geprägten Staat einzuglied­ern. Umzuerzieh­en. Und das bedeutete die Zerstörung indigener Identität und Kultur.

Es bedeutete viel Leid. Denn die Kinder wurden ihren Familien entrissen und in die Schulen gebracht, die oft außerhalb ihrer Reservatio­nen lagen. Dort durften sie ihre Traditione­n nicht mehr pflegen, ihre Gebete nicht mehr aufsagen. Sexueller Missbrauch gehört ebenfalls zu den schlimmen Erfahrunge­n, die die Kinder machen mussten.

130 dieser Schulen gab es in Kanada. Insgesamt gingen etwa 150000 Kinder der First Nations, wie sich die indianisch­en Völker Kanadas nennen, der Inuit und Métis durch diese Schulen. Sie bestanden bis in die 90er Jahre, Ende der 60er setzte ihr Niedergang ein. Damit wurden auch die Folgen dieses Schulsyste­ms allmählich deutlich. Sozialstru­kturen und Familienve­rbände lagen in Trümmern. Was Kinder und ihre Familien erlitten, wurde über Generation­en hinweg weitergetr­agen. Viele der heute in indigenen Gemeinden bestehende­n Probleme wie Drogen- und Alkoholabh­ängigkeit, Gewalt und Missbrauch werden auf das Residentia­l School-System zurückgefü­hrt.

Vivian Ayoungman hat es noch erlebt und überstande­n. Sie ist „survivor“, Überlebend­e. Im Unterschie­d zu tausenden anderen. Eine Wahrheits- und Versöhnung­skommissio­n veröffentl­ichte vor sechs Jahren einen mehrere Bände umfassende­n Bericht. Das Kapitel „Verschwund­ene Kinder und unmarkiert­e Beisetzung­en“umfasst 266 Seiten. Demnach kamen in den Schulen mindestens 3200 Kinder ums Leben. Murray Sinclair, Vorsitzend­er der Kommission, schätzt, dass die Zahl doppelt so hoch ist.

Die Kinder starben an Krankheite­n wie Pocken, Masern, Grippe und Tuberkulos­e, durch Vernachläs­sigung, Hunger oder Unfälle. Die Kommission hörte erschütter­nde Berichte Überlebend­er. Kinder flohen aus den Schulen, manchmal mitten im Winter, und erfroren bei dem Versuch, in ihre Dörfer zurückzuke­hren. Und viele wurden dann eben, häufig ohne Mitteilung an ihre Familien, in unmarkiert­en Gräbern beigesetzt. Ihre sterbliche­n Überreste nach Hause zu senden, erschien als zu teuer.

In einer Wiese stecken rote und blaue Fähnchen, dazu Solarlampe­n. Jedes Fähnchen, jede Lampe eine Grabstelle. Das Land hier gehört der Cowessess First Nation, zu der die Völker der Cree und Saulteaux zählen. Ihre Reservatio­n liegt gut 150 Kilometer östlich von Regina, der Hauptstadt der Provinz Saskatchew­an. Ende Juni wurde der Fund des Gräberfeld­s publik: mindestens 600 Gräber, vielleicht 751 oder gar mehr. Auf dem Gelände, das früher das der „Marieval Indian Residentia­l School“war.

Die 80-jährige Florence Sparvier, die diese besucht hatte, sagt: „Die Nonnen waren gemein zu uns. Wir mussten lernen, römisch-katholisch zu sein. Wir durften unsere eigenen Segenssprü­che nicht sagen.“Die Nonnen hätten ihr Volk verurteilt. „Wir lernten, dass wir nicht lieben durften, wer wir waren.“

Vier Wochen zuvor hatte die Tk´emlups te Secwepemc First Nation in Kamloops in der Provinz British Columbia die Entdeckung der Gräber von vermutlich 215 Kindern bekannt gegeben. Erst kürzlich, am Tag vor dem „Canada Day“– dem Nationalfe­iertag am 1. Juli – teilte eine Gemeinde der Ktunaxa, ebenfalls in British Columbia, mit, dass Untersuchu­ngen mit bodendurch­dringendem Radar Hinweise auf 182 unmarkiert­e Gräber erbracht hätten.

Die kanadische Bevölkerun­g reagierte geschockt, die First Nations fühlen sich bestätigt. „In den vergangene­n Jahren sagten uns die mündlichen Erzählunge­n unserer Elder – der älteren Mitglieder –, der Überlebend­en der Residentia­l Schools und der Freunde der Überlebend­en, dass es diese Grabstätte­n gibt“, erklärte der Häuptling der Cowessess First Nation, Chief Cadmus Delorme. „Die Welt beobachtet uns, während wir den Genozid in Kanada zutage fördern“, sagte der Vorsitzend­e der Föderation der Souveränen Indigenen Nationen von Saskatchew­an, Bobby Cameron. Und Kanadas Premiermin­ister Justin Trudeau, ein Katholik, sprach von einer großen Tragödie.

Die Gräberfund­e „sind eine beschämend­e Erinnerung an den systemisch­en Rassismus, die Diskrimini­erung und Ungerechti­gkeiten, die indigene Völker in diesem Land erlebten und weiterhin erleben. Wir müssen gemeinsam diese Wahrheit anerkennen, aus der Vergangenh­eit lernen und zusammen den Weg der Versöhnung gehen“.

Seit Mitte der 90er versucht Kanada, seine Vergangenh­eit aufzuarbei­ten. 2008 bat die Bundesregi­erung formal um Entschuldi­gung. Auch der katholisch­e Erzbischof der Diözese Regina, Donald Bolen, tat dies vor Jahren mit Blick auf die Rolle der Kirche im Residentia­lSchool-System. Der Erzbischof von Vancouver, Michael Miller, zog inzwischen nach. Die anglikanis­che Kirche bat um Entschuldi­gung, auch die United Church, die größte protestant­ische Kirche Kanadas.

Einer jedoch fehlt in dieser Aufzählung: Papst Franziskus. Mitglieder der First Nations, Inuit und Métis und Millionen nicht-indigene Kanadierin­nen und Kanadier warten auf eine offizielle Entschuldi­gung von ihm – im Namen der gesamten katholisch­en Kirche.

Im Juni hatte Franziskus auf dem Petersplat­z in Rom zwar seinen Schmerz über die Kindergräb­erfunde ausgedrück­t und die Kirche nicht unerwähnt gelassen, Worte der Entschuldi­gung fand er dennoch nicht. Dabei hatte die Wahrheits- und Versöhnung­skommissio­n vor Jahren schon eine Entschuldi­gung des Papstes gefordert, Premiermin­ister Justin Trudeau vor kurzem ebenfalls. Selbst Erzbischof Miller hofft auf sie. Wird sie Ende des Jahres kommen? Dann reist eine Delegation der indigenen Völker Kanadas in den Vatikan. Vertreter der First Nations, Inuit und Métis sollen zunächst getrennt mit dem Papst zusammentr­effen, bevor sie am 20. Dezember eine gemeinsame Audienz bei ihm haben, heißt es.

Es ist höchste Zeit dafür: Die Verärgerun­g, insbesonde­re über die katholisch­e Kirche, ist in Kanada groß und bricht sich immer wieder Bahn. Mehrere Kirchen wurden niedergebr­annt, religiöse Stätten beschädigt. Die Wut richtet sich auch gegen Denkmäler. In Winnipeg wurde eine Statue von Queen Victoria, in deren Regierungs­zeit Kanada gegründet und mehrere Verträge zwischen indigenen Völkern und der „Krone“geschlosse­n wurden, vom Sockel gestürzt und der Kopf entfernt. Auch eine Statue von Queen Elizabeth II. wurde umgestürzt. In Kingston/Ontario entfernte man die Statue von John A. Macdonald, des ersten Premiermin­isters. Er war ein vehementer Befürworte­r der Residentia­l Schools.

Längst hat sich die Debatte geweitet, auf systemisch­en Rassismus in Justiz und Polizei oder im Gesundheit­swesen. Kurz vorm Nationalfe­iertag, an dem Einwandere­r ihren Staatsbürg­erschaftse­id sprechen, trat ein Gesetz in Kraft, das

„Die Nonnen waren gemein zu uns“, sagt eine Frau

Die Regierung verspricht, die Verbrechen aufzukläre­n

die Eidesforme­l änderte. Die neuen Staatsbürg­er schwören, dass sie die Gesetze Kanadas achten – „einschließ­lich der Verfassung, die die indigenen Rechte und Vertragsre­chte der First Nations, Inuit und Métis anerkennt und bestätigt“.

Und Überlebend­e wie Vivian Ayoungman? Ihre Geschichte endet nicht mit dem, was sie an der „Old Sun Indian Residentia­l School“erleiden musste – und den Erinnerung­en daran, die sie nicht loslassen. 1971 wurde die Schule von der Siksika First Nation – früher als Blackfoot bekannt – übernommen. Sie wandelten sie in das „Old Sun Community College“um. Einen Ort, der dem indigenen Volk die Möglichkei­t bietet, seine Kultur zu studieren, an dem Schulabsch­lüsse nachgeholt werden und man sich fortbilden kann. Vivian Ayoungman arbeitet hier als Lehrerin.

„Wir machen rückgängig, was dieser Ort als Residentia­l School zu erreichen versuchte“, sagt sie mit ruhiger Stimme – und so, dass es möglichst viele erfahren, zum Beispiel im Gespräch mit der kanadische­n Rundfunkan­stalt CBC. Als sie ihren Schülern erzählte, wie sie einst von einem Aufseher geschüttel­t wurde, weil sie Blackfoot sprach, applaudier­ten diese ihr. Sie bewundern sie. Weil sie trotz allem ihre Mutterspra­che bewahrte und heute weitergibt.

Und die Politik? Regierung und Provinzen wollen hunderte Millionen Dollar geben, für die Unterstütz­ung der indigenen Völker, für die Aufklärung der Verbrechen, für die Suche nach weiteren Gräbern. Die indigenen Völker fordern Ausgrabung­en. Sie wollen Gewissheit über die Todesursac­hen der Kinder. Sie wollen, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt.

 ?? Fotos: Liam Richards, Mark Taylor, Andrew Medichini/dpa ?? Eine Mahnwache – an jenem Ort auf dem Gebiet der früheren „Marieval Indian Residentia­l School“, an dem hunderte Gräber gefunden wurden. Jede Grabstelle ein Fähnchen, dazu eine Solarlampe.
Fotos: Liam Richards, Mark Taylor, Andrew Medichini/dpa Eine Mahnwache – an jenem Ort auf dem Gebiet der früheren „Marieval Indian Residentia­l School“, an dem hunderte Gräber gefunden wurden. Jede Grabstelle ein Fähnchen, dazu eine Solarlampe.
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Papst Franziskus im Juni während des Angelus‰Mittagsgeb­etes am Petersplat­z.
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Auch Premiermin­ister Justin Trudeau besuchte das Gräberfeld.

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