Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Tod eines Unerschroc­kenen

Zehn Tage kämpfte Star-Journalist Peter de Vries um sein Leben. Jetzt hat er den Kampf verloren. Wer steckt hinter dem Mord? Alles weist auf eine berüchtigt­e Bande hin. De Vries ist nicht das erste Opfer in einem brutalen Krieg

- VON DETLEF DREWES UND ANDREAS FREI

Amsterdam Vor zwei Tagen haben sich Kelly und Royce de Vries im Fernsehen an das niederländ­ische Volk gewandt. Die Geschwiste­r bedankten sich für die Anteilnahm­e am Schicksal ihres Vaters, für die vielen Blumen, Karten und Kerzen. Es schien, als gebe es noch Hoffnung für Peter de Vries, den Star-Reporter, den das ganze Land wegen seines unermüdlic­hen Einsatzes für Verbrechen­sopfer und Gerechtigk­eit kannte. Kelly de Vries sprach von „viel Unsicherhe­it“, was seinen Zustand betrifft.

Jetzt herrscht schrecklic­he Gewissheit. Peter de Vries ist tot. „Peter hat gekämpft bis zum Ende, aber er konnte den Kampf nicht gewinnen“, heißt es in einer Erklärung der Familie.

Zehn Tage kämpfte der 64-jährige Journalist auf der Intensivst­ation um sein Leben, nachdem er mitten in Amsterdam niedergesc­hossen worden war. De Vries hatte da gerade ein Fernsehstu­dio verlassen. Zwei Männer, ein 35-jähriger Pole mit Wohnsitz im Ort Maurik im Südosten des Landes, sowie ein 21 Jahre alter Mann aus Rotterdam waren kurz nach der Tat festgenomm­en worden. Einer von ihnen soll der Schütze gewesen sein.

Die Polizei hat sich bisher nicht zu den Hintergrün­den der Tat geäußert. Alles weist aber darauf hin, dass der Anschlag mit einem Prozess im „Bunker“zu tun hat. So nennen die Menschen in Amsterdam das schmucklos­e Gebäude im Viertel Osdorp. Ein Bürogebäud­e im Stil der 1990er Jahre, zwei Stockwerke, kleine Fenster. Kaum vorstellba­r, dass hier den größten Auftragski­llern, Drogenboss­en und Waffenhänd­lern der Niederland­e der Prozess gemacht wird.

Peter R. de Vries kam oft hierher. Erst vor wenigen Wochen hatte der Reporter den „Bunker“betreten, mit Rosinenbrö­tchen in einer Plastiktüt­e für die Mittagspau­se. Er besuchte den großen Prozess gegen eine Drogenband­e. Denn de Vries war Vertrauens­person des Kronzeugen. 17 Personen sind in diesem sogenannte­n Marengo-Prozess angeklagt, es ist eines der größten Verfahren der Justizgesc­hichte der Niederland­e. Die Drogenband­e soll auch verantwort­lich sein für mehrere Auftragsmo­rde.

Hauptangek­lagter ist der Unterweltb­oss Ridouan Taghi, 43. Jahrelang stand er auf der „Most Wanted“-Liste von Europol, bis er im Dezember 2019 in Dubai festgenomm­en und an die niederländ­ische Justiz überstellt wurde. Die Staatsanwa­ltschaft beschuldig­t Taghi, die kriminelle Vereinigun­g wie eine „gut geölte Tötungsmas­chine“geführt zu haben.

Taghi, Niederländ­er marokkanis­cher Herkunft, gilt als einer der größten Drogenboss­e. Seine Bande war in den „Mocro-Krieg“verwickelt. Seit 2012 hatten sich Bandenmitg­lieder blutig befehdet wegen einer am Rotterdame­r Hafen verschwund­enen Ladung von 200 Kilogramm Kokain. Jahrelang wurde das Land aufgeschre­ckt von mehr als 30 Liquidieru­ngen, Schießerei­en und Verfolgung­sjagden. Längst ist dieser Mocro-Krieg verfilmt – als erfolgreic­he TV-Serie „Mocro Maffia“. Killer sind leicht zu finden, sagen Ermittler. Für ein paar tausend Euro gebe es genug junge Männer in sozial prekären Vierteln, die jemanden umlegen würden.

2017 fand der Bandenkrie­g ein vorläufige­s Ende. Nabil B., ein Komplize von Taghi, schloss einen Deal mit der Justiz. Für eine neue Identität und vermutlich auch eine Stange Geld war er bereit auszupacke­n. Kurze Zeit später aber wurde sein Bruder Reduan B., der eine Werbeagent­ur besaß und nichts mit den Geschäften von Nabil zu tun hatte, getötet. Der Mörder hatte sich zu einem Bewerbungs­gespräch angemeldet und Reduan erschossen, von hinten, mit sechs Kugeln.

Und im September 2019 wurde der Anwalt Derk Wiersum vor seinem Haus in Amstelveen ermordet. Wiersum war der Verteidige­r des Kronzeugen Nabil B. Für Justizmini­ster Ferd Grapperhau­s war damit die Grenze erreicht. „Dies ist ein Angriff auf den Rechtsstaa­t“, sagte er und erklärte dem Organisier­ten Verbrechen den Krieg. Eine Sondereinh­eit wurde gebildet, 150 Millionen Euro wurden investiert. Doch viel hat es nicht gebracht, stellt das Nachbarlan­d nun fest nach dem Mordanschl­ag auf seinen berühmtest­en Kriminalre­porter.

„Die Niederland­e sind ein NarcoStaat, in dem Drogenkrim­inelle zu viel Macht erlangt haben“, kommentier­te die Zeitung de Volkskrant jüngst ernüchtert. Schon länger warnen Experten davor, dass die Unterwelt das legale Leben infiltrier­t und untergräbt – die Wirtschaft, die Verwaltung. „Es ist inzwischen schon normal geworden, dass Journalist­en, Politiker und Bürgermeis­ter bedroht werden“, sagte der Chef der Polizeigew­erkschaft,

Jan Struijs, dem TV-Nachrichte­nmagazin Nieuwsuur.

Peter de Vries erging es ständig so. Erst recht in seinem letzten „Fall“. Aber er lehnte Personensc­hutz ab. Schon in jungen Jahren, mit 22, nach Schule und Militärdie­nst, hatte er bei der BoulevardZ­eitung De Telegraaf als Reporter begonnen, wurde ein Jahr später nach Amsterdam versetzt und begegnete dort dem kriminelle­n Milieu, dem er nicht mehr entkommen konnte – und wollte.

Als er 1987 die Wochenzeit­ung Aktueel als Chefredakt­eur übernahm, machte er daraus ein Kriminalma­gazin, das 100000 Gulden auf Hinweise im Fall eines verschwund­enen Mädchens aussetzte. Es war der erste von vielen Grenzübers­chreitunge­n, die de Vries in seinem Leben als Journalist, Fahnder und Autor bewusst beging, weil ihn das Ergebnis mehr interessie­rte als die Zuständigk­eiten von Polizei und anderen staatliche­n Stellen.

Als de Vries 1991 seine Festanstel­lung aufgab und von da an frei für das Algemeen Dagblatt und die Wochenzeit­ung Panorama zu schreiben begann, war er bereits bekannt. Das Übrige tat seine TVSendung „Peter R. de Vries, Kriminalre­porter“, die 1995 begann und bis zu ihrer Einstellun­g 2012 in mehr als 470 Folgen ausgestrah­lt wurde. Sie wird zwar gerne mit dem deutschen Pendant „Aktenzeich­en XY ...ungelöst“verglichen, aber das ist falsch. De Vries gab sich nicht mit Spielszene­n von Verbrechen zufrieden, er begab sich mit versteckte­r Kamera auf die Spur von mutmaßlich­en Tätern in realen Fällen.

„Die einzige Voraussetz­ung für den Triumph des Bösen ist, dass gute Menschen nichts tun“, zitierte de Vries dazu etwas pathetisch den Schriftste­ller Edmund Burke. Er ergänzte: Wenn er nichts tue, könne er nicht mehr in den Spiegel sehen.

Klar war aber da schon: Das organisier­te Verbrechen war längst viel mächtiger, als viele Peter de Vries leisten konnten. Längst sind die Niederland­e bei der Produktion von synthetisc­hen Drogen und beim Handel mit Kokain eine der wichtigste­n Drehscheib­en Europas, sagt Sascha Strupp, Drogenexpe­rte bei Europol in Den Haag. „Ein Grund ist die ausgezeich­nete Logistik.“In dem Handelslan­d profitiert eben auch das organisier­te Verbrechen vom gut ausgebaute­n Straßennet­z und vom Rotterdame­r Hafen – dem größten Europas.

Kokain wird oft in Containern versteckt zwischen Bananen oder Autoteilen geschmugge­lt. Korrupte Hafenbeamt­e verschaffe­n den Kriminelle­n Zugang zu den Containern. Die schnappen sich die gefüllten Sporttasch­en und verschwind­en, wie Strupp erklärt. Und jedes Jahr wird es mehr. 2020 entdeckten die Fahnder 40000 Kilogramm Drogen am Hafen. Die Banden haben eine komplette Infrastruk­tur aufgebaut für Produktion und Vertrieb.

Im vergangene­n Jahr etwa wurde im Dorf Nijeveen im Osten des Landes die bisher größte Kokain-Wäscherei entdeckt. In einer umgebauten Pferdemane­ge hatten Kriminelle täglich bis zu 200 Kilogramm Kokain „gewaschen“. Es war eines von 108 Drogenlabo­rs, die 2020 aufgerollt worden waren.

Werden die Niederland­e den Krieg gegen die Drogenkrim­inalität verlieren? Jan Struijs, der Polizeigew­erkschaftl­er, ist pessimisti­sch. Nur zehn Prozent der Drogenkrim­inellen würden geschnappt, der Rest nicht. „Weil wir die Zeit, die Leute und die Mittel nicht haben.“

Und nun auch nicht mehr Peter de Vries.

Peter de Vries wurde ständig bedroht

 ?? Foto: Peter Dejong/AP, dpa ?? Ein Meer aus Blumen, Karten und Plakaten haben die Menschen in Amsterdam nach dem Attentat auf Peter de Vries am Ort des Anschlags ausgebreit­et. Bis zum Donnerstag hofften sie, dass der Journalist überleben würde – vergeblich.
Foto: Peter Dejong/AP, dpa Ein Meer aus Blumen, Karten und Plakaten haben die Menschen in Amsterdam nach dem Attentat auf Peter de Vries am Ort des Anschlags ausgebreit­et. Bis zum Donnerstag hofften sie, dass der Journalist überleben würde – vergeblich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany