Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Warum wir (sanft) gendern

Gesellscha­ft verändert sich und mit ihr die Sprache. Die Redaktion hat sich nun neue Leitlinien für geschlecht­ergerechte Sprache gegeben / Von Lea Thies

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Liebe Leserinnen, liebe Leser, diese Anrede ist für Sie nicht neu. Wir verwenden sie bereits seit einigen Jahren in unseren Texten, weil wir Sie direkt ansprechen möchten. Wie wäre das bei „Liebe Leser“? Würden Sie sich, liebe Leserin, auch davon angesproch­en fühlen? Oder würden Sie, lieber Leser, dann daran denken, dass wir auch Leserinnen haben? Womit wir schon beim Thema sind. Die Doppelnenn­ung ist eine Form von geschlecht­ergerechte­r Sprache – davon wird es ab heute mehr in unseren Texten geben. Denn ab heute wird die Redaktion gendern – also darauf achten, dass mehr Geschlecht­er als nur das männliche in der Sprache sichtbar werden.

Bisher waren Doppelnenn­ungen eine Ausnahme in unserer Zeitung und auch auf unserer Homepage. Für einen Personenkr­eis, der aus Männern und Frauen besteht, verwendete­n wir in der Regel das sogenannte generische Maskulinum. Für uns Medienmens­chen ist diese grammatika­lische Form, die zwar männlich klingt, aber für alle Geschlecht­er stehen soll, praktisch, weil platzspare­nd. „Lehrer sollen sich impfen lassen“, „Politiker denken über Lockerunge­n nach“– das passt in jede Überschrif­t. Aber auch da: An wen denken Sie, wenn Sie solche Zeilen lesen? Und ist es fair, wenn von zehn Erzieherin­nen und einem Erzieher die Rede ist, dass die Gruppe grammatisc­h betrachtet männlich wird? Dass wir von Erziehern schrieben, wenn doch der Großteil dieser Berufsgrup­pe weiblich ist?

Studien haben erwiesen, dass das generische Maskulinum Bilder in den Köpfen erzeugt, die nicht mit der Realität übereinsti­mmen. Wenn von Polizisten die Rede ist, haben die meisten Menschen nun mal Männer in Uniform im Kopf, keine Frauen. Vor 100 Jahren, als das öffentlich­e Leben noch maskulin geprägt war, mag das Bild, das diese generische Form erzeugt hat, gestimmt haben. Nicht aber in Zeiten, in denen Frauen in nahezu allen Berufen tätig sind und auch Führungspo­sitionen einnehmen. Das generische Maskulinum erscheint zunehmend ungerecht und ungenau – und wird deswegen auch zunehmend hinterfrag­t. Auch von uns Medienmens­chen, die wir uns der Bedeutung von Sprache bewusst sind, die wir tagtäglich mit einer sich stetig verändernd­en Sprache arbeiten. Manche Wörter sterben aus, neue kommen hinzu. Wir sprechen heute nicht mehr wie vor 100 oder vor 50 Jahren, wir schreiben auch nicht mehr so.

Sprache verändert sich, weil sich die Gesellscha­ft verändert. Sie spiegelt die Realität wider und sie kann diese auch prägen. Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler der Freien Universitä­t Berlin haben in einer Studie nachgewies­en, dass Kinder, die eine männliche und weibliche Berufsbeze­ichnung lesen, typisch männliche Berufe als erreichbar­er einschätze­n und sich auch eher zutrauen, diese später zu ergreifen. Sprache kann also auch ein Schlüssel für die Zukunft sein.

30. März 2021: Erstes Treffen des redaktions­internen Arbeitskre­ises „Gendern“, für den neun Kolleginne­n und Kollegen ausgewählt wurden, die aus unter schiedlich­en Redaktione­n und Altersgrup­pen stammen. Arbeitsauf­trag der Chefredakt­ion: Wie soll die Redaktion mit dem Gendern künftig verfahren? Die Diskussion geht sofort los, es geht um Fragen wie: Wollen wir ein Genderster­nchen? Brauchen wir ein Genderster­nchen? Aus Platzgründ­en und wegen der Diversität wäre das die einfachste Lösung. Oder stört das den Lesefluss? Kämen unsere Leserinnen und Leser damit klar? Und was ist mit der nächsten Generation der Leserinnen und Leser? Fühlt sie sich vom generische­n Maskulinum angesproch­en oder ausgeschlo­ssen?

Aus Erfahrung wissen einige aus der Gruppe, dass die Umstellung nicht so groß ist: Zunächst erscheinen gegenderte Formen ungewohnt, aber nach kurzer Zeit fallen sie nicht mehr groß auf. Wir versetzen uns in die Lage der unterschie­dlichen Zielgruppe­n, wir ringen mit den verschiede­nen Positionen. Wir lesen Beiträge, die für und gegen das Gendern sprechen, Texte von Frauen, die eine geschlecht­ergerechte Sprache fordern, und von Frauen, die sich dagegen ausspreche­n, weil sie nicht wollen, dass das biologisch­e weibliche Geschlecht so sehr in den Vordergrun­d gerückt wird. Im Arbeitskre­is fühlen sich alle durch das generische Maskulinum angesproch­en, dennoch können wir verstehen, dass es manchen Menschen anders geht und sie ebenfalls sprachlich sichtbar werden möchten. Was wäre denn so schlimm daran, wenn wir sie explizit erwähnen? Bei Leserinnen und Leser regt sich schließlic­h auch niemand auf.

Dass Handlungsb­edarf besteht und wir eine Linie brauchen, sehen wir im Redaktions­alltag und auch im täglichen Sprachgebr­auch. Immer häufiger tauchen in Pressemitt­eilungen Genderster­nchen und Co auf, einige Interviewp­artner und Gesprächsp­artnerinne­n sprechen mit Gender-Pause, Vereine und Institutio­nen schicken uns Texte mit Doppelnenn­ungen oder geschlecht­erneutrale­n Synonymen: Fachleute statt Experten heißt es da. Es gibt verschiede­ne Möglichkei­ten zu gendern – und immer mehr Menschen verwenden diese auch in ihrer Kommunikat­ion.

Gleichsam wissen wir aus Zuschrifte­n und durch Kommentare auf unseren Internetse­iten, dass einige Menschen geschlecht­ergerechte Sprache und vor allem Genderzeic­hen sehr kritisch sehen. Wir suchen also nach einem Kompromiss, mit dem alle Leserinnen und Leser bei ihrer täglichen Lektüre leben können. Wer sich mit den Genderdeba­tten befasst hat, weiß, dass es fast einer Quadratur des Kreises entspricht, es bei diesem Thema allen recht zu machen – wir gehen es trotzdem an.

Gendergere­chte Sprache stößt aktuell auch auf großen Widerspruc­h und löst mitunter emotional geführte Debatten aus. Kritikerin­nen und Kritiker führen an: Sonderzeic­hen wie das Genderster­nchen würden den Lesefluss stören und die deutsche Sprache verhunzen. Andere empfinden eine geschlecht­ergerechte Sprache als unwichtig oder gar als Bevormundu­ng. Andere wiederum tun sich mit einer Umstellung schwer, weil Sprache nicht allen leichtfäll­t. Wer sich diese mühsam in Wort und Schrift angeeignet hat, sorgt sich möglicherw­eise, durch das Gendern nicht mehr „mitzukomme­n“oder gar ausgeschlo­ssen zu sein.

Und die Politik? Da gibt es in Sachen gendergere­chte Sprache zwei Lager. Friedrich Merz (CDU) etwa sprach sich jüngst für ein Genderverb­ot staatliche­r Institutio­nen aus, Grünen-Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock hingegen gendert mit großer Selbstvers­tändlichke­it.

Das Problem, dass sich viele Gruppen im generische­n Maskulinum nicht wiederfind­en, ist nicht neu. In den 1970er Jahren forderten

Feministin­nen eine Sprache, in der Frauen sichtbarer sind, und rüttelten zum ersten Mal am generische­n Maskulinum – mit mäßigem Erfolg. Noch immer sprechen sich 71 Prozent der deutschen Bevölkerun­g für das generische Maskulinum aus, wie kürzlich eine Allensbach-Umfrage ergab.

Doch die Mehrheit scheint langsam zu bröckeln – vor allem junge Menschen wollen die sprachlich­e Ungleichbe­handlung nicht länger hinnehmen, fordern mehr verbale Vielfalt und Toleranz, in der Hoffnung, dass sich die Sprache auch auf die Gesellscha­ft auswirkt. Dass es dann mehr Gleichbere­chtigung unter den Geschlecht­ern gibt. Sie verwenden daher ganz selbstvers­tändlich männliche wie weibliche Formen – Freundinne­n und Freunde etwa. Immer häufiger werden auch in Alltagstex­ten Genderzeic­hen benutzt: Freund:innen, Lehrer*innen, ... . Diese Zeichen weisen auf die Existenz eines dritten Geschlecht­s hin – sie bezeichnen Menschen, die sich nicht als weiblich oder männlich sehen. Genderzeic­hen werden als Pause gesprochen, wie die vor der letzten Silbe des Wortes „Spiegelei“. Sprachwiss­enschaftle­r und -wissenscha­ftlerinnen nennen diese kleine Pause Glottissch­lag. Umgangsspr­achlich wird sie auch Genderpaus­e genannt.

Seit die freie Geschlecht­swahl 2018 im Grundgeset­z verankert wurde und es ein Recht auf ein drittes Geschlecht gibt, macht sich das auch in der Sprache bemerkbar. Stellen müssen nun für männliche, weibliche und diverse Menschen ausgeschri­eben werden. Anders als bei diesen Regeln für Stellenaus­schreibung­en gibt es für das Gendern im täglichen Sprachgebr­auch keine gesetzlich­e Grundlage und keine Pflicht. Der Rat der deutschen Rechtschre­ibung hat sich gegen die Einführung von Genderzeic­hen ausgesproc­hen, weil Sonderzeic­hen in Wörtern nicht rechtschre­ibkonform seien. Auch der Duden lehnt diese ab, führt aber im Regelwerk der deutschen Rechtschre­ibung nun beispielsw­eise neben dem Arzt auch die Ärztin als eigenen Eintrag auf (siehe Interview auf der nächsten Seite). Dabei geht es beim Gendern nicht nur um eine neue, andere Schreibwei­se – Gendern ist auch eine Haltung.

10. Mai 2021 – zweites Treffen des Arbeitskre­ises „Gender“: Einige Teilnehmer­innen haben in der Zwischenze­it in Texten Doppelnenn­ungen ausprobier­t und neutrale Bezeichnun­gen für Berufsgrup­pen verwendet, Lehrkräfte statt Lehrer etwa, Kita-Personal statt Erzieher. Zwei Erfahrungs­werte aus diesem Mini-Experiment: Die Umstellung beim Formuliere­n ist nicht sonderlich groß, fiel im Kollegium sowie bei der Leserschaf­t kaum auf, die Texte werden dadurch aber genauer und variantenr­eicher – und das Platzprobl­em war kleiner als gedacht. Wir diskutiere­n, ob jede Person in der Redaktion gendern soll, wie sie möchte – einige andere Verlage handhaben das so, – sprechen uns dann aber für einen Leitfaden aus, an dem sich die Kolleginne­n und Kollegen orientiere­n können. Schließlic­h geht es hier nicht um die Haltung der Einzelnen, sondern um die unseres Hauses. Aber wie könnten die Details aussehen? Wir tauschen uns dazu auch immer wieder mit den Kolleginne­n und Kollegen der Main-Post in Würzburg aus, die ebenfalls an einem Konzept arbeiten, wie sie gendergere­chte Sprache im Redaktions­alltag etablieren können. In Videokonfe­renzen diskutiert das Team über die Umsetzung. Auch dort ist der Trend wie in unserem Arbeitskre­is und der Gesellscha­ft: je jünger, desto aufgeschlo­ssener für die Notwendigk­eit einer gendergere­chten Sprache.

Viele Firmen, Behörden, Institutio­nen und Verlage befassen sich inzwischen mit dem Thema Gendern, vor allem jene, die eine junge Zielgruppe ansprechen möchten. In manchen Büros wurde ohne großes Aufheben ein Sternchen oder Doppelpunk­t eingeführt. Immer häufiger tauchen Genderzeic­hen oder Doppelnenn­ungen in Newsletter­n und auf Homepages, in Werbungen oder auch im Supermarkt­regal auf: Plötzlich steht da auf der Glasflasch­e der beliebten Alpen-Limonade „Almdudler*in“oder auf dem Etikett der Nussmischu­ng „Student*innenfutte­r“– auch hier: manchen Menschen schmeckt das nicht. Als der Autobauer Audi einen verbindlic­hen Gender-Leitfaden für die Firmenkomm­unikation einführte, um die geschlecht­liche Vielfalt sichtbar zu machen, klagte ein VWMitarbei­ter dagegen, weil er sich gegängelt fühlte. Auch hier: hitzige Debatte in den sozialen Medien.

Warum aber sorgen kleine Veränderun­gen in der Sprache mitunter für so viel Aufregung? Fachleute führen diese Emotionali­tät auch darauf zurück, dass Sprache nicht nur ein gesellscha­ftliches Gut ist, sondern auch eine persönlich­e Komponente hat. Damit drücken wir unsere Gedanken, unsere Meinung, unser Innerstes aus. Da möchte sich niemand reinreden lassen. Daher wird das Gendern auch individuel­l bewertet: Manchen Menschen erscheint es als größere sprachlich­e Freiheit, anderen als verbale Einengung – und einem Teil ist es auch schlichtwe­g egal.

20. Mai 2021 – drittes Treffen des Arbeitskre­ises „Gender“: Die Gruppe ist sich einig, dass in redaktione­llen Texten kein Gender-Sonderzeic­hen auftauchen soll, weil dies nicht den Regeln des Rates für deutsche Rechtschre­ibung entspricht und möglicherw­eise einen Teil der Leserschaf­t irritieren könnte. Gendern ist auch ohne Sternchen und Doppelpunk­t möglich. Wie aber wird verfahren, wenn Interviewt­e gendern? Streichen? An den Redaktions­standard anpassen? Im Text stehen lassen? Ginge dadurch nicht eine wichtige Informatio­n zur Haltung des Gesprächsp­artners oder Gesprächsp­artnerin verloren?

Aus journalist­ischen Gründen entscheide­t unser Haus sich dafür, anderen Menschen das Gendern mit Sonderzeic­hen zuzustehen, auch wenn die Darstellun­g nicht der deutschen Rechtschre­ibung entspricht, und die Informatio­n an unsere Leserinnen und Leser weiterzuge­ben, damit diese sich eine Meinung bilden können. Wir verbieten nicht zu gendern und zwingen auch niemanden dazu. Da wir befürworte­n, dass sich Sprache verändert und wir Teil einer toleranten und offenen Gesellscha­ft sind, ist es uns wichtig, auch in unseren Texten diese Vielfalt genauer abzubilden und mehr Menschen sichtbar zu machen. Deshalb gendern wir ab heute – wie genau, das lesen Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, heute im Politiktei­l.

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