Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Lernen lernen
Dieses Schuljahr war ein Schock für das Bildungssystem. Die Politik versprach viel und hielt wenig. Zum Glück gab es Lehrkräfte, die Neues erprobten: Unterricht im Freien etwa oder selbstdenkende Arbeitsblätter. Zu Besuch an Schulen, in denen die Zukunft
Ulm Das Schulfach Virologie gibt es in Deutschland nicht – und überraschenderweise hat es auch kurz vor Ende des zweiten Corona-Schuljahres noch niemand ernsthaft gefordert. Trotzdem wissen schon die Jüngsten nach eineinhalb Jahren Pandemie eine ganze Menge über Viren. Zum Beispiel, dass die Ansteckungsgefahr drinnen im Klassenzimmer um ein Vielfaches höher ist als draußen im Freien.
Das ist eine wichtige Erkenntnis für die Klasse 5g. Jeden Mittwoch verlassen die Schülerinnen und Schüler des Anna-Essinger-Gymnasiums in Ulm das Schulhaus. Sie sind eine sogenannte Outdoorklasse. Wetterfest gekleidet und mit vollen Brotzeitdosen ausgerüstet, laufen sie ins nahe gelegene Maienwäldle. In der Natur verbringen die Kinder dann den Schultag – ganz ohne Masken und vorgeschriebene Sitzplätze.
Schon im zweiten Schuljahr versucht sich das Gymnasium, am westlichen Rand von Ulm gelegen, an diesem Konzept für die fünfte und sechste Jahrgangsstufe. Im
Wald angekommen, teilt sich die 5g in zwei Gruppen auf, die von jeweils einer Lehrkraft betreut werden. Die Mädchen gehen weiter einen schmalen Waldpfad entlang, um zwischen Pilzen und Schnecken einen Halbkreis um Andreas Braun zu bilden. Während der Biologielehrer erklärt, inwiefern die Lunge eines Vogels von seiner Lebensweise abhängt, zwitschern einige Exemplare über den Köpfen der Schülerinnen aus voller Kehle.
Der Lehrer ist vom Konzept der Outdoorklasse überzeugt: „Ich kann die Natur gut in meinem Unterricht einsetzen. Das macht ihn viel lebendiger“, sagt Braun, der mit seinem Hut samt breiter Krempe an einen Ranger erinnert.
Seit Klassenzimmer nicht mehr als Lernorte, sondern als potenzielle Virensammelstellen angesehen werden, ist das Konzept des Draußenunterrichts auch in Deutschland in den Fokus gerückt – so wie viele andere, alternative Formen des Lernens und Lehrens. Bildungspolitiker hatten zu Beginn der ersten Schulschließungen zwar den Begriff des Distanzunterrichts in die Schullandschaft geworfen. Konzepte dafür schickten sie aber bis heute nicht hinterher. Zwar funktionierte gerade der Distanzunterricht übers Internet in Schuljahr zwei nach Pandemiebeginn viel besser als noch im Lernjahr 2019/2020. Millionen Lehrkräfte haben sich fortgebildet, ausgetauscht und mit der Technik vertraut gemacht. Schülerinnen und Schüler sind selbstständiger geworden. Es hat sich gezeigt: Unterricht muss sich verändern. Die Pandemie machte aber auch klar: Von der Politik ist dieser Wandel nicht zu erwarten. Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler müssen etwas wagen. So wie in Ulm.
Der Draußenunterricht ist eine der Lernformen, an denen das Interesse seit der Pandemie gestiegen ist. Jan Ellinger, Sport- und Gesundheitswissenschaftler an der Technischen Universität München, erforscht das Modell auch in der Donaustadt. „Lehrkräfte, Eltern, Schulleitungen sahen im Draußenunterricht die Chance, einen halbwegs geregelten Unterricht unter Pandemiebedingungen abhalten zu können – und sei es nur an einzelnen Tagen in der Woche“, sagt er. In der Politik hat er die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Unterrichtsformen vermisst. „Sie vermittelte in den letzten zwölf bis 14 Monaten vielfach den Eindruck, die Verlegung des Unterrichts in den digitalen Raum sei die einzig sinnvolle Alternative zum Präsenzunterricht in Klassenzimmern.“
In anderen Ländern ist das ganz anders. In Dänemark etwa, dem Pionierland der „Oudeskole“, hat das Schulministerium schon früh dazu geraten, den Unterricht während der Pandemie ins Freie zu verlegen. Die Münchner Sportwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler konnten beweisen, dass Kinder, die im Freien unterrichtet werden, mehr in Bewegung sind und ein niedrigeres Stresslevel aufweisen als solche im Klassenzimmer. Internationale Studien stellten eine Verbesserung der Lernmotivation und des Sozialverhaltens fest. Mindestens 60 Schulen in Deutschland praktizieren heute den Draußenunterricht – die Dunkelziffer schätzt Ellinger weit höher ein.
Die Stunden im Freien sind laut Dieter Greulich, dem Schulleiter des Ulmer Gymnasiums, ganz normaler Fachunterricht nach Lehrplan. Der Wald, auch das betont Greulich, sei aber nicht für alle Lerninhalte geeignet. Für das genaue Konstruieren in der Geometrie seien Tisch und Tafel sinnvoller. Und an mehreren Regentagen in Folge würde die Begeisterung dafür, raus zu gehen, wohl bedeutend sinken.
Trotzdem: In Pandemiezeiten wissen die Ulmer Outdoorklassen ihr Freiluftklassenzimmer zu schätzen. Wenngleich manche mit ihren neuen Sitznachbarn – Schnecken und Insekten – erst zurechtkommen mussten. Keine Masken tragen zu müssen und viel Platz zum Lernen und Spielen zu haben, diese Vorteile fallen den Kindern sofort ein. Die coronabedingten Schulschließungen machten aber auch nicht vor ihnen halt. Schulleiter Greulich fragte damals im baden-württembergischen Kultusministerium, ob wenigstens die Stunden im Wald stattfinden könnten – und erhielt eine Absage.
war es oft, auch in Bayern. Die Politik bremste den Pragmatismus, der in einer nie gekannten Krise auch im Bildungssystem dringend nötig gewesen wäre.
Kreativ sein, Neues wagen – für Professor Michael Kerres, Inhaber des Lehrstuhls für Mediendidaktik und Wissensmanagement der Universität Duisburg-Essen, liegt dieses Potenzial vor allem im Digitalen. Kerres hat jüngst einen 14-PunktePlan dazu veröffentlicht, was Schulen für die Zukunft brauchen.
Er fängt beim Grundlegenden an, weil das an mehr als nur mancher Schule fehlt: eine digitale BasisInfrastruktur. digitale Arbeitsmaterialien, digitale Notensysteme, dienstliche E-Mail-Adressen für Lehrkräfte. Und zuverlässig funktionierende Plattformen, auf denen man sich vernetzen und zusammen Aufgaben bearbeiten kann.
„Staatlich finanzierte Schulen sind in diesen Basisfunktionen erstaunlich abgehängt“, sagt Bildungsforscher Kerres auch noch nach zwei Corona-Schuljahren. Er hat Verständnis dafür, dass in der Pandemie Notlösungen gefordert waren, „um Unterricht mit digitaler Technik irgendwie möglich zu machen“. Oft hing der Erfolg vom Engagement der Lehrkräfte ab – und von der Ausstattung der Schulen. Während manches Haus jedes Kind mit einem Leih-Tablet ausstattete, werden andere auch nach der Pandemie noch vergeblich auf einen Glasfaseranschluss im Schulhaus warten. Dabei gehe es jetzt, so Kerres, „um die weiterreichende Frage, wie wir uns das Lernen in der Schule vorstellen wollen, um für die Lebenswelt von morgen vorzubereiten“. Digitale Technik sei ein Hilfsmittel für pädagogische Innovationen. Die aber müssten von den Lehrkräften kommen.
Isabelle Schuhladen von der Realschule Meitingen (Kreis Augsburg) beherzigt das. Auch sie praktiziert eine Methode, die sich im zu Ende gehenden Schuljahr mehr und mehr verbreitet hat: „Lehren durch LerSo nen“(LdL). Schülerinnen und Schüler erklären sich den Stoff dabei gegenseitig, die Lehrkraft greift nur in Ausnahmefällen ein. Die Französischlehrerin könnte stundenlang schwärmen – nicht nur, weil diese Art des Lernens in Zeiten des Fernunterrichts Gold wert war. Viele, die LdL vor Corona praktizierten, hätten festgestellt, dass der Unterricht digital einfach weitergelaufen sei. „Die Schüler waren es gewohnt, selbstständig zu arbeiten.“Aber wie geht das? Beispiel aus Schuhladens achter Klasse: Zwei Jugendliche haben eine interaktive Präsentation vorbereitet, die Klasse ist stets aktiv und denkt mit. Bei der Online-Stunde über das Videoprogramm Microsoft Teams füllt die Klasse die Folien der Präsentation gemeinsam weiter aus, die letzte gestaltet jede und jeder als Hausaufgabe selbst.
Gerade ist die Realschullehrerin dabei, ein LdL-Netzwerk für ganz Deutschland mitaufzubauen. Schuhladen bot dazu schon Fortbildungen an. Die Teilnehmerzahl war riesig. „Dank Corona ist es uns Lehrern und Eltern aufgefallen, dass die Schüler sich teils schwer tun, sich zu organisieren, sich zu motivieren. Festgestellt haben wir auch, dass die Schüler das selbstständige Lernen an der Schule nicht unbedingt lernen.“Sie glaubt, dass künftig viele Lehrkräfte ihren Unterricht „tiefer reflektieren werden“.
Florian Bagus und Norman Seeliger von der Arnold-Bode-Schule in Kassel tun das schon lange – und lassen sich von der Technik helfen. Die Lehrer der Berufsschule für Handwerk, Technik und Gestaltung haben das erste digitale Arbeitsblatt erfunden, dessen Aufgaben sich an den Wissensstand der Jugendlichen anpassen. SmartPaper nennen sie das schlaue Blatt, für das sie dieses Jahr mit dem „Sonderpreis Corona“des Deutschen Lehrerpreises ausgezeichnet wurden. Bevor sie die Aufgaben lösen, nähmen die Schülerinnen und Schüler in der dazugehörigen App eine Selbsteinschätzung vor, erklärt Bagus. Daraufhin bekämen sie Aufgaben, die sie beim jeweiligen Kenntnisstand abholen. Bisher nutze vor allem das Kollegium in Kassel das SmartPaper, doch nach Monaten des Distanzunterrichts ist das Interesse so gestiegen, dass die beiden ab Herbst bundesweite Workshops anbieten werden.
Durch Corona erhoffe er sich eine Flexibilisierung des Unterrichts, sagt Bagus. Er denkt auch an die Schülerinnen und Schüler, die die Isolation zu Hause nicht gut weggesteckt haben, die teils mit Angstzuständen in die Schule kämen. „Diesen Schülern könnte man sagen: Nimm dir erstmal Zeit für dich – am Unterricht kannst du trotzdem teilnehmen, per Video natürlich.“
Von diesen Betroffenen gibt es viele. 85 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen sieben und 17 Jahren sagten in einer Hamburger Studie nach dem zweiten SchulLockdown zwischen Dezember und März, die Corona-Krise schlage ihnen auf die Psyche. Norman Seeliger könnte sich sogar vorstellen, Digitalunterricht – und auch den Einsatz des SmartPapers – mit psychiatrischen Therapieplätzen zu verzahnen. Solche Pläne sind bislang Utopien. Deutschlands Kultusminister haben das noch mit keinem Wort erwähnt.
Diese Schwierigkeiten sind im Ulmer Maienwäldle ganz weit weg. So analog wie es nur geht, sitzen die Kinder auf Baumstämmen mit Klemmbrettern auf dem Schoß und grübeln über einem Koordinatensystem. In der Pause renovieren sie ein Tipi. Dass auch das Bildungssystem eine Sanierung braucht, haben viele in den Schulfamilien erkannt. Aber eben nicht alle.
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