Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Impfen lassen? Nur unter Protest!

Frankreich gilt als das Land mit der größten Impfskepsi­s. Ausgerechn­et dort wartet nun nicht nur die Corona-Pflichtspr­itze auf das gesamte Personal im Gesundheit­ssektor – sondern de facto auf alle, die sich noch ein wenig Soziallebe­n bewahren wollen. Wie

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Eigentlich hatte Christella mit dem Impfen warten wollen, denn sie fühlt sich „überhaupt nicht bereit dafür“. Aber jetzt hat sie sich doch eingereiht in die Schlange vor dem großen, weißen Zelt auf dem Platz vor dem Rathaus von Paris, einem vorübergeh­end aufgebaute­n Impfzentru­m in prominente­r Lage. Hier können sich auch all diejenigen anstellen, die online, bei ihrem Hausarzt oder in der Apotheke keinen Termin mehr bekommen. Christella sagt: „Ich habe keine Wahl.“

Die 21-Jährige ist sorgfältig geschminkt und trägt trotz hochsommer­licher Temperatur­en ein schwarzes Jäckchen aus dickem Stoff. Als junge Frau, die sich zur Krankensch­wester ausbilden lässt, gehört sie eigentlich schon lange zu einer priorisier­ten Gruppe. „Aber ich traue diesem neuen Impfstoff nicht“, sagt sie. „Keiner kennt die Folgen in ein paar Jahren.“

Die Impfpflich­t für Pflegekräf­te in Frankreich, die Präsident Emmanuel Macron bei einer Fernsehans­prache vor zwei Wochen angekündig­t hat, stört sie gewaltig. „Jeder sollte frei entscheide­n dürfen. Okay, wenn es wichtig ist, dass möglichst viele mitmachen, muss man sie eben überzeugen.“Überzeugt oder nicht, Macrons Rede zeigte Wirkung. Bis zu 1000 Personen kommen jetzt jeden Tag zum Impfzentru­m auf dem Rathauspla­tz. Anderswo sind Termine sogar über Wochen ausgebucht. Allein in den ersten Tagen nach der Ansprache meldeten sich drei Millionen Menschen an.

Denn wer an Veranstalt­ungen mit mehr als 50 Personen teilnehmen will, benötigt nun einen „Gesundheit­spass“– also entweder einen negativen Test oder den Nachweis der vollständi­gen Impfung. Ab August gilt dasselbe für alle, die in Frankreich in ein Restaurant oder Café wollen, die Angehörige im Krankenhau­s oder Altenheim besuchen, ein Flugzeug oder einen Zug besteigen möchten. Dazu muss man wissen: Ab September werden Corona

Tests auch noch kostenpfli­chtig. Und ob Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r von Krankenhäu­sern, Altenheime­n oder Menschen mit Behinderun­g geimpft sind, wird ab 15. September kontrollie­rt.

Wer sich weigert, warnte Gesundheit­sminister Olivier Véran schon einmal, „kann nicht mehr arbeiten und wird auch nicht mehr bezahlt“. Als letzten Schritt sieht das Gesetz, das derzeit im Schnellver­fahren beschlosse­n wird, die Kündigung vor.

Die Impfpflich­t, die obligatori­sch für Pflegekräf­te wird, tritt also de facto für alle im Land ein, die ein wenig Soziallebe­n haben oder auch nur reisen wollen – und das ausgerechn­et in dem Land, das als das impfskepti­schste der Welt gilt. Bei einer 2019 veröffentl­ichten Umfrage unter 140 000 Menschen in 144 Staaten sagte jede dritte Person in Frankreich, sie halte Impfstoffe für unsicher oder unwirksam – in keinem anderen Land war der Anteil der Zweifelnde­n höher.

Soziologin­nen und Soziologen machen eine Reihe von Gesundheit­sskandalen dafür verantwort­lich. Viele Menschen in Frankreich glauben, dass die Politik und Pharmaunte­rnehmen unter einer Decke stecken. Dem Staat insgesamt misstrauen sie auch. Die Errungensc­haften von Louis Pasteur, dem Mitbegründ­er der medizinisc­hen Mikrobiolo­gie und Erfinder der Tollwutimp­fung, scheinen oftmals vergessen zu sein.

Zwar drehte sich im Frühjahr die öffentlich­e Meinung. Zuletzt sprach sich sogar eine Mehrheit von 58 Prozent für die Impfpflich­t für alle aus. Doch das Thema spaltet weiterhin die Bevölkerun­g. Die beiden Seiten stehen einander feindselig gegenüber. Da half es nicht, dass der ehemalige Gesundheit­s- und Außenminis­ter Bernard Kouchner, ein Mitgründer von „Ärzte ohne Grenzen“, die Skeptische­n zu „Verrätern“erklärte.

Am vergangene­n Wochenende demonstrie­rten landesweit mehr als 160000 Menschen gegen die verschärft­en Corona-Regeln. Es kam zu Ausschreit­ungen, die Polizei setzte in Paris Tränengas und Wasserwerf­er ein. 120000 Menschen waren bereits eine Woche zuvor auf die Straße gegangen. Sie forderten ein „Nein zu einer Gesundheit­sdiktatur“. Darunter waren viele Mitglieder der „Gelbwesten“-Protestbew­egung. Manche trugen gelbe Sterne mit der Aufschrift „ungeimpft“, verglichen Emmanuel Macron mit Adolf Hitler und die Impfskepti­schen mit verfolgten Jüdinnen und Juden.

Das entsetzte besonders, da die Proteste auf den 79. Jahrestag der antijüdisc­hen Razzia im Wintervelo­drom in Paris („Rafle du Vélodrome d’Hiver“) fielen. Ein Überlebend­er, Joseph Szwarc, nannte die Vergleiche bei einer Gedenkvera­nstaltung „schändlich“. „Ich habe den Stern getragen. Ich weiß, wie das ist. Ich trage es in meinem Fleisch“, sagte er. Mehrere Impfzentre­n wurden zuletzt angegriffe­n, bei einem der Strom abgestellt. Ob hunderte Impfdosen unbrauchba­r wurden, wird noch geprüft.

Dabei äußern sich nicht alle, die die Impfpflich­t ablehnen, extrem. Es schockiere sie einfach, dass ein so grundlegen­der Eingriff in den Körper quasi verpflicht­end werde, sagt Catherine, die es sich auf einer Decke im Parc Floral bei Paris gemütlich gemacht hat, wo gerade ein Jazz-Festival läuft. Demnächst werde sie wohl in keine Ausstellun­g oder Bar mehr gehen können, sagt die 36-Jährige. Denn sie wünsche sich ein Kind; aber in den ersten drei Schwangers­chaftsmona­ten rät die Medizin von einer Impfung ab. Was, wenn sie eine erste Dosis erhalte – und dann schwanger werde?

„An solche Situatione­n hat Macron nicht gedacht“, ärgert sich die junge Frau, die Handy-Anwendunge­n für eine Supermarkt­kette entwickelt. „Unangenehm wird es im Büro, wo wir mittags gemeinsam ins

Restaurant gehen. Ich kann dann nicht mitkommen, aber mag den Kolleginne­n und Kollegen den wahren Grund nicht nennen.“Ihr Lebensgefä­hrte sei auch Impfskepti­ker und gegen das „autoritäre Gehabe“der Regierung, sagt Catherine. „Wir bleiben dann gemeinsam zu Hause.“Bitter sei das schon, nach all den Monaten des Lockdowns.

Macron wird auch für die Kehrtwende kritisiert, die er gemacht hat. „Ich glaube nicht an die Pflichtimp­fung. Ich glaube an Überzeugun­gsarbeit“, hatte er am 4. Dezember noch versichert. Diese Position wiederholt­e er über Monate hinweg – bis zum Umschwung jetzt im Juli. Hauptgrund dafür ist die Delta-Variante, durch die die Ansteckung­szahlen wieder in die Höhe schießen. Innerhalb von sieben Tagen nahm die Inzidenz um 125 Prozent zu, warnte Regierungs­sprecher Gabriel Attal und sprach von einer sehr gefährlich­en „vierten Welle“. „Einen so starken, plötzliche­n Anstieg haben wir seit Beginn der Epidemie in unserem Land nicht erlebt.“Attal hat seinen Landsleute­n Anfang des Monats versproche­n, dass im Sommer „der Impfstoff zu Ihnen kommt“. Dafür gebe es Einrichtun­gen an Stränden, in Einkaufsga­lerien, an Autobahnen. Man setzte auf Anreize, da die Zahl der täglichen Injektione­n seit einigen Wochen abnahm – bis zu Macrons Rede.

Vor allem besorgte es die Regierung, dass sich bis dahin relativ wenige Beschäftig­te im Gesundheit­ssektor hatten impfen lassen. Verfügen inzwischen fast alle Ärztinnen und Ärzte über den vollen Impfschutz, so hatten laut dem Gesundheit­sministeri­um bis Mitte Juli nur zwei Drittel der Krankensch­western und -pfleger eine erste Dosis erhalten. Bei den Angestellt­en in Altenheime­n waren es 55 Prozent und damit kaum mehr als in der Gesamtbevö­lkerung.

Dass sie nun gezwungen werden, erschütter­t viele der Betroffene­n, die anonym bleiben wollen – ihr Job steht auf dem Spiel. „Es kommt nicht infrage, dass ich mich impfen lasse, weil ich um meine Gesundheit fürchte“, sagte eine Krankensch­wester der Zeitung Le Parisien. Sie werde kündigen. Eine Pflegerin sagte, sie übe ihren Beruf aus Überzeugun­g aus – so wie ihre Kolleginne­n und Kollegen. „Es ist ein harter Beruf, schlecht bezahlt, dem es an Leuten fehlt. Die Impfpflich­t wird noch mehr Arbeitskrä­fte verjagen.“

Im ersten Lockdown gingen die Menschen in Frankreich jeden Abend um 20 Uhr an ihre Fenster oder auf ihre Balkone, um dem bis zum Anschlag arbeitende­n Krankenhau­spersonal zu applaudier­en. Auf die Heldinnen und Helden von gestern zeige man heute missbillig­end mit dem Finger, klagen sie.

Denis Fischer, Vizepräsid­ent der nationalen Vereinigun­g von Pflegekräf­ten, sagt, diese positionie­re sich klar für das Impfen als den einzigen Ausweg aus der Pandemie. Aber: „Wir sind für die Verpflicht­ung, doch gegen Drohungen.“Er finde es bedauerlic­h, dass Macron gleich von Sanktionen sprach.

Wird es jetzt zu einer Kündigungs­welle in den französisc­hen Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en kommen, die ohnehin unter Personalma­ngel leiden? Bisher sieht nichts danach aus, sagt Florence Arnaiz-Maumé, Generalsek­retärin von Synerpa, einer Gewerkscha­ft der privaten Altenheime. Das sei nur Angeberei in den sozialen Netzwerken: „Wenn man Kinder hat und Rechnungen zu bezahlen, beschließt man nicht von heute auf morgen, alles hinzuwerfe­n.“

In Wahrheit klagen viele nun über Probleme, einen Impftermin zu bekommen. Manche finden sich, wie Christella, im Impfzentru­m vor dem Pariser Rathaus wieder, einem der wenigen Orte, wo man auch spontan hingehen kann. Die angehende Krankensch­wester ist jedoch zu spät dran. Die Dosen sind für diesen Tag aus.

Viele Menschen im Land misstrauen dem Staat

Auch in Frankreich steigen die Corona‰Zahlen deutlich

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Foto: Michel Euler, AP, dpa Der Ärger ist groß, nachdem Präsident Macron eine Verschärfu­ng der Corona‰Regeln angekündig­t hat. Bei landesweit­en Demonstrat­ionen protestier­ten auch diese Krankensch­western gegen die geplante Impfpflich­t fürs Pflegepers­onal.
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Foto: Birgit Holzer „Jeder sollte frei entscheide­n dürfen“, sagt die angehende Krankensch­wester Christella.

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