Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Märchen von der Impfskepsi­s

Bundesländ­er-Vergleiche zeigen, dass Impfquoten eher vom Organisati­onstalent der Politik abhängen, als von mangelnder Impfbereit­schaft. Wie der Staat eine große Chance verpasst

- VON MICHAEL POHL

Berlin In Berlin hat das erste von sechs Impfzentre­n bereits wieder geschlosse­n. Am Dienstag ist das medizinisc­he Personal aus dem ehemaligen Flughafen Tempelhof komplett abgezogen. In drei anderen Impfzentre­n gibt es dagegen jeden Freitagnac­hmittag seit vergangene­r Woche sogenannte „Spontan-Impfungen“: Dort können sich alle Berlinerin­nen und Berliner ohne Anmeldung und Termin sofort impfen lassen. „Wir haben im Moment mehr Impfstoff als Nachfrage“, sagt ein Sprecher der Berliner Senatsverw­altung. Doch beim ersten freien Impftag warteten die Menschen stundenlan­g, um eine Spritze zu bekommen, bei einer ähnlichen Aktion auf einem Parkplatz eines großen Möbelhause­s sogar den halben Tag.

Wie in Berlin stehen derzeit viele Städte und Landkreise vor ähnlichen Problemen. Nach vielen Monaten langer Impfstoff-Knappheit hat sich die Situation gewendet. Nun müssen die Gesundheit­sverwaltun­gen nicht mehr Impfwillig­e vertrösten, sondern um impfbereit­e Menschen werben. Bei den Impfungen liegt Berlin inzwischen vor Bayern. In der Hauptstadt sind 80 Prozent der über 60-Jährigen bereits voll geimpft, in Bayern nur 75 Prozent. Der Freistaat ist derzeit Schlusslic­ht bei der Impfquote unter den westdeutsc­hen Bundesländ­ern. 58 Prozent der Bürgerinne­n und Bürger in Bayern sind zumindest einmal geimpft. Schlechter schneiden nur Brandenbur­g, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen ab.

Obwohl Sachsen umgerechne­t mehr Corona-Tote pro Einwohner als die USA oder Italien verkraften musste, liegt die Impfquote in dem ostdeutsch­en Bundesland nur knapp über 50 Prozent. Allerdings ist auch die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen bei der sogenannte­n Sieben-Tage-Inzidenz in Sachsen derzeit mit vier Fällen pro 100 000 Einwohnern derzeit am niedrigste­n in ganz Deutschlan­d. Bundesweit ist sie mehr als dreimal so hoch.

Am besten schneidet bundesweit Bremen ab. Das kleinste deutsche Bundesland knackte vergangene Woche die Marke von 92 Prozent bei den über 60-Jährigen, die bereits mindestens einmal geimpft wurden. Diese Zahl ist nicht nur ein Zeichen dafür, dass kein anderes Bundesland die Impfungen so profession­ell organisier­t hat. Mithilfe großer Bremer Unternehme­n richtete die Stadt ein hochprofes­sionelles riesiges Callcenter ein, über das sich die Bremerinne­n und Bremer ohne lästiges Ausfüllen seitenlang­er Online- oder Papierform­ulare von Anfang an einen Termin sichern konnten. Auch wenn sie vor Monaten teils noch lange auf die Spritze warten mussten, bis für sie Impfstoff vorhanden war.

Die hohe Impfquote widerlegt auch einige Vorurteile. So hat Bremen ebenso wie Berlin einen überdurchs­chnittlich hohen Anteil von Menschen mit ausländisc­hen Wurzeln an der Bevölkerun­g. Dies ist bei guter Organisati­on jedoch kein Hindernis für eine hohe Impfquote.

Auch die Zahl der sogenannte­n Impfskepti­ker und Impfverwei­gerer ist – gemessen an den konkret von schweren Verläufen bedrohten über 60-Jährigen – offensicht­lich deutlich geringer, als in der öffentlich­en Diskussion vermittelt wird. In den westdeutsc­hen Bundesländ­ern liegt die Impfquote in dieser Altersgrup­pe durchweg bei über 80 Prozent. Übrigens auch in dünner besiedelte­n Ländern wie Niedersach­sen, Schleswig-Holstein oder dem ostdeutsch­en Impfmuster­land Mecklenbur­g-Vorpommern, das bei der Impfquote ebenfalls vor Bayern liegt. Noch ist unklar, was der genaue Grund für das unterschie­dliche Impftempo der Länder ist. Das Beispiel Bremens zeigt jedoch, dass es auch an der Organisati­on liegt und daran, wie aktiv die zuständige­n Stellen auf die Bevölkerun­g zugehen. Und wie unkomplizi­ert am Ende die Verfahren für die Impfwillig­en sind. Inzwischen liegen die Arztpraxen bei den täglich verimpften Dosen bundesweit vor den von der öffentlich­en Hand betriebene­n Impfzentre­n, die zunehmend an Tempo verlieren.

In der politische­n Debatte, die durch die sich rasant ausbreiten­de Delta-Variante geprägt ist, wird jedoch der Eindruck erweckt, es liege eher an einer mangelnden Impfbereit­schaft der Bevölkerun­g, als an möglichen Schwächen der öffentlich­en Verwaltung, dass die deutsche Impfkampag­ne an Fahrt verliert.

CDU-Kanzleramt­sminister Helge Braun erhöhte jetzt sogar den Druck auf die Nicht-Geimpften. „Geimpfte werden definitiv mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte“, sagte er. „Das kann auch bedeuten, dass gewisse Angebote wie Restaurant-, Kino- und Stadionbes­uche selbst für getestete Ungeimpfte nicht mehr möglich wären, weil das Restrisiko zu hoch ist“, warnte Braun. „Die Zahl der Neuinfekti­onen steigt noch schneller als in den vorherigen Wellen.“Unionskanz­lerkandida­t Armin Laschet wies den unpopuläre­n Vorstoß zurück. „Ich halte nichts von Impfpflich­t und halte auch nichts davon, auf Menschen indirekt Druck zu machen, dass sie sich impfen lassen sollen.“

Auch FDP-Fraktionsv­ize Michael Theurer lehnt eine indirekte Impfpflich­t entschiede­n ab. „Anstatt mit staatliche­m Zwang zu drohen, sind Anreize der bessere Weg“, sagte der FDP-Politiker unserer Redaktion. „Bund und Länder müssen in einer konzertier­ten Kampagne Impfen niedrigsch­wellig in sozialen Brennpunkt­en, bei Veranstalt­ungen, Besuchen in Einkaufsze­ntren, in Schwimmbäd­ern, an Stränden, in Diskotheke­n, Kneipen, Restaurant­s, Bahnhöfen und Flughäfen anbieten“, forderte er. „Zudem sollte die Bundesregi­erung gemeinsam mit prominente­n Vertretern aus Wirtschaft, Kultur und Sport im Rahmen einer pfiffigen Werbe- und Informatio­nskampagne für das Impfen mobilisier­en.“

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Foto: Carstensen, dpa Berliner Impfzentru­m: Die Bürgerinne­n und Bürger warten teils stundenlan­g bei Imp‰ fungen ohne bürokratis­che Voranmeldu­ng.

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