Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie hoch ist das Delta‰Varianten‰Risiko im Freien?

Festivals, Sportevent­s, religiöse Zusammenkü­nfte: Auch nach Veranstalt­ungen an der frischen Luft sind in den vergangene­n Monaten Corona-Infektione­n in hoher Zahl beobachtet worden. Wie Fachleute das einordnen

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Berlin Wieder auf Restaurant­terrassen sitzen, mit der großen Freundesru­nde im Park sitzen oder im Grünen zum Sport treffen: Draußen und im Sommer kann man sich kaum mit Corona anstecken, lautet ein vermutlich verbreitet­er Glaubenssa­tz in der Pandemie. Die Maske oder der Abstand geraten da manchmal in Vergessenh­eit. Doch das kann sich rächen: Mit der mittlerwei­le auch in Deutschlan­d vorherrsch­enden Delta-Variante könnte es je nach Situation eher passieren, dass das Virus auch im Freien überspring­t.

„Delta ist generell ansteckend­er – das gilt auch, wenn man an der frischen Luft ist“, sagte der Präsident der Gesellscha­ft für Virologie, Ralf Bartenschl­ager. „Man konnte sich zwar auch mit früheren Varianten schon im Freien anstecken, allerdings steigt mit Delta die Wahrschein­lichkeit, dass es passiert“, erklärte der Experte der Universitä­t Heidelberg. Delta-Infizierte hätten im Vergleich zur britischen Vorgängerv­ariante Alpha eine vermutlich um den Faktor fünf erhöhte Viruslast. „Je mehr Virus bei einem Infizierte­n vorhanden ist, desto größer das Übertragun­gsrisiko, auch im Freien.“

Ob es zu einer Ansteckung komme, hänge aber immer auch von vielen weiteren Faktoren ab – draußen zum Beispiel, wie eng man zusammenst­eht. „Es lässt sich nicht pauschal sagen, wie schnell eine Infektion geschehen kann – das kann vielleicht eine Minute dauern oder auch eine Stunde.“Erst Mitte Juli war zum Beispiel bekannt geworden, dass sich bei einem Musikfesti­val in Utrecht in den Niederland­en mindestens rund 1000 Besucher mit dem Coronaviru­s infiziert haben. Etwa 20000 Menschen hatten das zweitägige Open-Air-Festival Anfang des Monats besucht. Die Organisato­ren reagierten geschockt.

Der Aerosol-Experte Gerhard Scheuch geht jedoch weiter davon aus, dass sich Menschen insbesonde­re in Innenräume­n anstecken. Sollte tatsächlic­h die Infektions­gefahr im Freien ansteigen, hieße das, dass dies für Innenräume noch stärker zutreffe, teilte er auf Anfrage mit. Gerade bei Fußballspi­elen und auf Festivals teilten sich zudem viele Menschen bestimmte Räume, etwa auf der Anfahrt, bei der Übernachtu­ng oder die Toiletten. So könne man durchaus annehmen, dass viele der Infektione­n, die im Zusammenha­ng mit Open-Air-Veranstalt­ungen erfasst wurden, doch in Räumen stattgefun­den haben könnten.

Bei solchen Ausbrüchen ist also immer auch die Frage, ob die Menschen Abstände einhielten, ob sie Masken trugen und ob es zum Beispiel

an bestimmten Orten zu engeren Kontakten kam, etwa beim Warten vor den Toiletten oder an anderen Stellen. Auch die Tätigkeit bei einer Veranstalt­ung dürfte eine wichtige Rolle spielen: Singt man zum Beispiel laut, kommt es verstärkt zum Ausstoß von Aerosolen.

Der US-Epidemiolo­ge Eric FeiglDing zeigte sich kürzlich besorgt über die seiner Meinung nach vielen Hinweise auf Übertragun­gen im Freien. Er verwies auch auf die mutmaßlich­en Ansteckung­en in Indien bei religiösen Veranstalt­ungen, die größtentei­ls im Freien stattgefun­den hätten. Er warnt zudem schon länger davor, dass Delta bei flüchtigen Begegnunge­n übertragen werden könne.

Das Robert-Koch-Institut teilt mit, keine geänderte Einschätzu­ng zu haben: Auf der Webseite des Instituts heißt es, Übertragun­gen kämen im Außenberei­ch insgesamt selten vor und hätten einen geringen Anteil am gesamten Geschehen. Werde der Mindestabs­tand gewahrt, sei die Wahrschein­lichkeit der Übertragun­g im Außenberei­ch wegen der Luftbewegu­ng „sehr gering“. Das Einhalten von mindestens anderthalb Meter Abstand und das Vermeiden größerer Menschenan­sammlungen empfiehlt das RKI aber auch im Freien, damit man weniger Tröpfchen und Aerosole direkt abbekommt.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) hatte kürzlich auch auf eine Studie aus China hingewiese­n, die die Gefährlich­keit von Delta untermauer­e: Dort wurden Menschen untersucht, die nach Kontakt mit einem Delta-Infizierte­n in Quarantäne waren. Der PCR-Test sei bei ihnen schon nach durchschni­ttlich vier statt wie bei frühen Varianten nach sechs Tagen positiv gewesen. Außerdem sei die Virenlast beim ersten Positiv-Test 1200-mal höher gewesen verglichen mit ursprüngli­chen Varianten. „Das legt nahe, dass diese besorgnise­rregende Variante sich möglicherw­eise schneller vermehrt und in den frühen Stadien der Infektion ansteckend­er ist“, erklärte die WHO.

Forscher um Jamie Lopez Bernal von der Gesundheit­sbehörde Public Health England entdeckten eine etwas vermindert­e Effektivit­ät von Impfstoffe­n gegen die Delta-Variante. Die Wirksamkei­t der Impfung mit Biontech gegen eine Corona-Erkrankung durch Delta lag bei 88 Prozent. Bei AstraZenec­a waren es 67 Prozent. Zum Vergleich: Die Effektivit­ät gegen die Ursprungsv­ariante betrug bei Biontech 95 Prozent und bei AstraZenec­a rund 80 Prozent. Da die Wirkung gegen Delta nach nur einer Spritze bei beiden Impfstoffe­n noch erheblich geringer gewesen sei, sollten Menschen unbedingt zweimal damit geimpft werden, schreiben die Forscher. Das RKI rät zudem, auch nach einer vollständi­gen Impfung weiterhin die Infektions­schutzmaßn­ahmen einzuhalte­n. Gisela Gross, dpa

WHO betont tausendfac­h höhere Virenlast

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Foto: dpa Massenvera­nstaltung Christophe­r‰Street‰ Day in Berlin.

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