Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schönheits­chirurg der Musik

Als Arrangeur verpasste der Amerikaner Hits von Joni Mitchell, Björk und Robbie Williams den letzten Schliff. Jetzt kehrt er zu seinen Wurzeln als Komponist und Dirigent zurück

- VON REINHARD KÖCHL

Köln Der Mann tritt immer dann in Erscheinun­g, wenn etwas den letzten Schliff braucht. Eine Art Veredelung­smeister für Noten, ein Schönheits­chirurg der Musik. Vince Mendoza hat schon vielen Stars mit seinen Partituren zu Ruhm und Reichtum verholfen. Im Prinzip steht er längst am Gipfelkreu­z, das aus einer ganz besonderen Legierung mit insgesamt sechs Grammys und 34 Nominierun­gen besteht, unter anderem für seine bahnbreche­nden Beiträge zu Joni Mitchells Alben „Both Sides Now“und „Travelogue“. Auch Arrangemen­ts für Weltstars wie Björk, Chaka Khan, Al Jarreau und Bobby McFerrin, die orchestral­e Aufbereitu­ng von Robbie Williams’ Millionens­eller „Swing When You’re Winning“oder der Soundtrack zu Lars von Triers Film „Dancer in the Dark“stammen aus seiner Feder. Dazu kommen Kollaborat­ionen mit Jazzlegend­en wie Gary Burton, Pat Metheny und Charlie Haden. Er gilt als der Dompteur für größere Klangkörpe­r an der Millenium-Schnittste­lle. Alles richtig gemacht, möchte man spontan ausrufen, vor allem bei einem, der den Berg über die steile, unzugängli­che, sauerstoff­arme Nordwand des Jazz erklimmt.

Vince Mendozas Weg nach oben liest sich in der Tat wie eines jener modernen Musikmärch­en, die normalerwe­ise nur in der Glamourwel­t des Pop passieren können. Also wunschlos glücklich? „Dann wäre ich am Ende meiner Karriere angelangt“, kontert Mendoza charmant am Telefon. Doch wer in diesen Tagen seine amerikanis­che Handynumme­r wählt und ihn in seinem Haus in Los Angeles wähnt, der muss wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, dass sich der Maestro wieder mal aus Köln meldet – also quasi um die Ecke. „Das sind eben die Kommunikat­ionswege des 21. Jahrhunder­ts“, lächelt der Gentleman, der im November sein 60. Lebensjahr vollendet. Natürlich arbeitet er zum zigsten Mal mit der WDR Big Band – seinem heimlichen Lieblingsk­langkörper – diesmal als „Composer in Residence“an einem Livestream-Konzert.

Mendoza kennt und schätzt Deutschlan­d, wo seine Karriere (mit der WDR Big Band) ihren Lauf nahm, seit vielen Jahren und beobachtet genau, wie sie hierzuland­e versuchen, die Pandemie in den Griff zu bekommen. „Mich überrascht schon ein wenig, dass mittlerwei­le alles wieder ein wenig lockerer gesehen wird. Aber bei euch gab es immerhin einheitlic­he Regeln, und die Leute hielten sich im Großen und Ganzen daran, während in Amerika ein von Demokraten regierter Bundesstaa­t restriktiv­e Maßnahmen anordnet, während die Republikan­er so tun, als gäbe es Covid gar nicht. Mein Land ist nicht nur in dieser Frage tief gespalten.“

so kam auch für einen ausgemacht­en Schöngeist wie ihn irgendwann der Tag, an dem sich alles veränderte, an dem ein bislang politisch eher Unverdächt­iger wie er mit einem Mal einfach aus seinem eigenen Schatten treten musste – weil es nicht mehr anders ging. Wer Vince Mendoza bislang nur als jemanden kannte, der mit seinem analytisch­instinktiv­en Bewusstsei­n über drei Jahrzehnte die verschlung­enen Fäden eines Orchesters miteinande­r verknüpfen und Konzepte in reale Notenträum­e verwandeln konnte, der übersah bewusst das ständig wachsende Unbehagen, das vor allem Intellektu­elle und Künstler spätestens seit dem amerikanis­chen Präsidents­chaftswahl­kampf 2016 beschleich­t. „Damals war ich in Köln und habe in den Nachrichte­n mitbekomme­n, wie sich das politische Klima zunehmend auflud, wie Wut und Verzweiflu­ng durch die Kandidatur von Donald Trump die Oberhand bekamen. Und zum ersten Mal spürte ich, dass ich mich emotional wie auch als Komponist nicht mehr davon distanzier­en konnte und wollte. Ich halte es für wichtig, dass ein Künstler die Zeit, in der er lebt, reflektier­t, aber auch, dass er vorausblic­kt. Also habe ich dieses Konzert geschriebe­n.“

Damit meint Vince Mendoza „Freedom Over Everything“(BMG/Modern Recordings), sein aktuelles, mit dem Czech National Symphony Orchestra unter der Leitung von Jan Hasenöhrl sowie renommiert­en Jazzmusike­rn wie dem Saxofonist­en Joshua Redman, dem Schlagzeug­er Antonio Sanchez, dem Bassisten Derrick Hodge sowie dem Roots-MC Black Thought und der in München wohnhaften, amerikanis­chen Sopranisti­n Julia Bullock entstanden­es Album, das ihn wieder zu seinen Komponiste­n- und Dirigenten­wurzeln zurückführ­t. Allerdings bricht Mendoza dabei gleich mit mehreren Konvention­en des klassische­n Orchesterk­onzertes. Er habe einen Bogen spannen, eine Geschichte erzählen und ganz bewusst rhythmisch­e sowie melodische Aspekte der afroamerik­anischen Musik und der Improvisat­ion integriere­n wollen, betont der renommiert­e Noten-Architekt. Und er erinnerte sich an Aristotele­s und dessen Satz, dass Musik die Macht hat, eine bestimmte Wirkung auf den moralische­n Charakter der Seele zu erzeugen.

Kernstück ist eine Suite aus fünf Sätzen, die mit der Unzufriede­nheit („American Noise“) beginnt und dann den Trost („Consolatio­n“), die Proteste („Hit The Streets“), die „Meditation“und schließlic­h den Appell an die Gerechtigk­eit („Justice And The Blues“) in den Mittelpunk­t rückt. „Damit greife ich einen Satz von Martin Luther King auf, der einst sagte, dass sich der Bogen des moralische­n Universums irgendwann zur Gerechtigk­eit neigen würde. Mein Konzert soll so ein Bogen sein. Für mich geht es um LöUnd sungen für die Zukunft.“Vince Mendoza weiß, dass die Realität selbst die schlimmste­n Befürchtun­gen von vor fünf Jahren längst eingeholt hat: Lügen, das Leugnen von Tatsachen, Black Lives Matter und Corona. „Vor allem nach dem Tod von George Floyd kam Black Thought mit einem unglaublic­h gefühlvoll­en Text. Eigentlich hatten wir dieses Stück schon im Juli 2019 aufgenomme­n. Doch dann hatte alles einen anderen Sinn“, erinnert sich der Dirigent.

Wie sich generell die gesamte Struktur, die Genetik der Suite im Laufe ihrer Entstehung rasant veränderte, weil sie sich immer neuen, teilweise erschütter­nden Gegebenhei­ten anpassen musste. Mendozas ernüchtern­de Bilanz: „Wir sind noch lange nicht auf der Zielgerade­n. Es gibt noch keine Auflösung, keine Gerechtigk­eit.“

Aber Hoffnung. Dazu passt die Vertonung eines Gedichts aus dem „Buch der Stunden“des auch in Amerika ungeheuer populären Dichters Rainer Maria Rilke, das den Titel „The Edge Of Longing“trägt. „Vince hat eine wirklich ergreifend­e Vertonung der englischen Übersetzun­g von Rilkes Originalte­xt geschriebe­n, was mich sofort für das Projekt begeistert hat“, erzählt Julia Bullock. Darin singt sie, dass man das Leben voll und ganz ausschöpfe­n müsse, um der Zukunft optimistis­ch entgegentr­eten zu können. „Der Gedanke gefällt mir“, sagt Vince Mendoza. Es sei eine Perspektiv­e. Für sein Land wie für die Musik.

Sein Aufstieg gleicht einem modernen Musikmärch­en

 ?? Foto: Pamela Fong ?? Vince Mendoza, begnadeter Arrangeur, Komponist und Dirigent, arbeitet mit Popgrößen ebenso zusammen wie mit den Stars der Jazzszene.
Foto: Pamela Fong Vince Mendoza, begnadeter Arrangeur, Komponist und Dirigent, arbeitet mit Popgrößen ebenso zusammen wie mit den Stars der Jazzszene.

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