Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Vision von der ewigen Bewegung
Im Klostergarten von St. Stephan zeigt die Berliner Kompanie großartige Bilder. Die Texte sind eher Ballast
Vor dem Wikipedia-Eintrag über Johann Bessler, Quacksalber und Mechaniker im frühen 18. Jahrhundert, steht aktuell folgende Warnung: Der Artikel lese sich „sehr essayhaft und anekdotisch, ist unenzyklopädisch und voll kurioser Behauptungen“. Da macht das Theater Anu also alles richtig, wenn es sich dem möglichen Erfinder eines Perpetuum mobile besser gleich frei assoziierend und poetisch nährt. Die Berliner Truppe war im Rahmen des Augsburger Kultursommers im Klostergarten von St. Stephan zu sehen.
An sieben szenischen und medialen Stationen erforscht „Perpetuum. Stadt ohne Mühsal“Geschichte und Fiktion der Idee von der ewigen Bewegung ohne neuerliche Energiezufuhr. Ausgangspunkt ist ein fiktiver Nachrichtenbeitrag, laut dem die Aufzeichnungen Besslers im Hafenbecken von Bad Karlshafen gefunden wurden. Das Stück war ursprünglich eine Auftragsarbeit für die nordhessische Kommune, deren mechanik-interessierter Gründer, Landgraf Carl, Bessler an seinem Hof gefördert hatte. Angeblich entwickelte der dort ein permanent mobiles Rad. Man konnte Bessler weder Betrug nachweisen noch ihn bestätigen, denn er soll alles aus Angst vor Neidern und Kopisten zerstört haben.
Nun, 300 Jahre später, verspricht der Fund in der Kiste der Menschheit eine schöne neue Welt. Eine Stadt soll gegründet werden, als deren erste Bewohner die Theaterbesucher sich bewerben können. Ob das „Leben ohne Mühsal“allerdings erstrebenswert ist, kann man schnell bezweifeln. Eine Art Reinkarnation Graf Carls als verrücktem Wissenschaftler erklärt das Konzept: „unbekörperte“Bewohner in Kapseln werden von einer Maschine versorgt und „geliebt“. Das lässt unwillkürlich an die „Matrix“-Filme denken, nur ist Jacek Klinke nicht annähernd so cool wie Laurence Fishburne. Der Anu-Schauspieler kommt gar etwas laienhaft daher, ebenso Markus Moiser als Futurist Paul Scheerbart an der folgenden
Station: zu übertrieben und schrill, einfallslos die parodistische Spielhaltung gegenüber langen, komplexen Texten. Toll für die Augen ein simpel illuminiertes Zoetrop plus Fahrradrad.
Maßstab für Anu-Schauspielkunst ist Gründer und Leiter Stefan Behr, der in Augsburg die Rolle des „letzten Universalgelehrten“übernahm: Auf einem transparenten Laufsteg vor einer antiquarischen Bücherwand bindet er sich grummelnd buchstäblich das ganze Menschheitswissen in Form immer größer werdender Bücher ans Bein, während eine Off-Stimme anhand der Frage „Was war davor?“über wissenschaftlichen Wahnsinn und die Grenze zur Magie sinniert: „Wenn nichts aus nichts entsteht, wie konnte dann die Welt entstehen?“Behr versteht es, Wahnsinn und Magie faszinierend zu spielen.
Auch die Performerinnen an den letzten drei Stationen ziehen in ihren Bann: Bille Behr als antropomorphisiertes KI-Wesen Harmony, die die Besucher anhand von Entscheidungsfragen ähnlich der ZDF-Kindersendung „1, 2 oder 3“in Felder stellen lässt: Strom zum Nulltarif für alle, da das Perpetuum grenzenlos Energie erzeugt? KI? Sprachlich, tänzerisch, in Interaktion mit dem Publikum und vor Projektionen führt Behr den Zuschauern die Konsequenzen ihrer Entscheidungen spannend vor – auch wenn es v.a. die populärwissenschaftlich gängigen Klischees sind.
Bei „Frau Mehrs“alias Bärbel Aschenbergs metaphysischer Station wird klar, dass anstatt einer mechanische Konstruktion wir alle im Hamsterrad unserer modernen Gesellschaft es sind, die ständig laufen, bevor Rebecca Dirler als Harmony reloaded mit einer letzten Frage – Unsterblichkeit? – das Publikum halb fasziniert, halb rätselnd entlässt. „Perpetuum“ist kein Selbstläufer. Dem Theaterabend muss, träge angestoßend, im Verlauf gehörig Energie zugeführt werden. Texte von Stefan und Regie von Bille Behr sind stellenweise gut bis genial, in Summe und Kombi mit den weniger glückenden Stationen aber Ballast für genau das, was Anu eigentlich wunderbar kann: Sein Publikum mit großen, gewaltigen Bildern verzaubern und en passant dessen Intellekt beschäftigen.