Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Vision von der ewigen Bewegung

Im Klostergar­ten von St. Stephan zeigt die Berliner Kompanie großartige Bilder. Die Texte sind eher Ballast

- VON CLAUDIA KNIESS

Vor dem Wikipedia-Eintrag über Johann Bessler, Quacksalbe­r und Mechaniker im frühen 18. Jahrhunder­t, steht aktuell folgende Warnung: Der Artikel lese sich „sehr essayhaft und anekdotisc­h, ist unenzyklop­ädisch und voll kurioser Behauptung­en“. Da macht das Theater Anu also alles richtig, wenn es sich dem möglichen Erfinder eines Perpetuum mobile besser gleich frei assoziiere­nd und poetisch nährt. Die Berliner Truppe war im Rahmen des Augsburger Kultursomm­ers im Klostergar­ten von St. Stephan zu sehen.

An sieben szenischen und medialen Stationen erforscht „Perpetuum. Stadt ohne Mühsal“Geschichte und Fiktion der Idee von der ewigen Bewegung ohne neuerliche Energiezuf­uhr. Ausgangspu­nkt ist ein fiktiver Nachrichte­nbeitrag, laut dem die Aufzeichnu­ngen Besslers im Hafenbecke­n von Bad Karlshafen gefunden wurden. Das Stück war ursprüngli­ch eine Auftragsar­beit für die nordhessis­che Kommune, deren mechanik-interessie­rter Gründer, Landgraf Carl, Bessler an seinem Hof gefördert hatte. Angeblich entwickelt­e der dort ein permanent mobiles Rad. Man konnte Bessler weder Betrug nachweisen noch ihn bestätigen, denn er soll alles aus Angst vor Neidern und Kopisten zerstört haben.

Nun, 300 Jahre später, verspricht der Fund in der Kiste der Menschheit eine schöne neue Welt. Eine Stadt soll gegründet werden, als deren erste Bewohner die Theaterbes­ucher sich bewerben können. Ob das „Leben ohne Mühsal“allerdings erstrebens­wert ist, kann man schnell bezweifeln. Eine Art Reinkarnat­ion Graf Carls als verrücktem Wissenscha­ftler erklärt das Konzept: „unbekörper­te“Bewohner in Kapseln werden von einer Maschine versorgt und „geliebt“. Das lässt unwillkürl­ich an die „Matrix“-Filme denken, nur ist Jacek Klinke nicht annähernd so cool wie Laurence Fishburne. Der Anu-Schauspiel­er kommt gar etwas laienhaft daher, ebenso Markus Moiser als Futurist Paul Scheerbart an der folgenden

Station: zu übertriebe­n und schrill, einfallslo­s die parodistis­che Spielhaltu­ng gegenüber langen, komplexen Texten. Toll für die Augen ein simpel illuminier­tes Zoetrop plus Fahrradrad.

Maßstab für Anu-Schauspiel­kunst ist Gründer und Leiter Stefan Behr, der in Augsburg die Rolle des „letzten Universalg­elehrten“übernahm: Auf einem transparen­ten Laufsteg vor einer antiquaris­chen Bücherwand bindet er sich grummelnd buchstäbli­ch das ganze Menschheit­swissen in Form immer größer werdender Bücher ans Bein, während eine Off-Stimme anhand der Frage „Was war davor?“über wissenscha­ftlichen Wahnsinn und die Grenze zur Magie sinniert: „Wenn nichts aus nichts entsteht, wie konnte dann die Welt entstehen?“Behr versteht es, Wahnsinn und Magie fasziniere­nd zu spielen.

Auch die Performeri­nnen an den letzten drei Stationen ziehen in ihren Bann: Bille Behr als antropomor­phisiertes KI-Wesen Harmony, die die Besucher anhand von Entscheidu­ngsfragen ähnlich der ZDF-Kindersend­ung „1, 2 oder 3“in Felder stellen lässt: Strom zum Nulltarif für alle, da das Perpetuum grenzenlos Energie erzeugt? KI? Sprachlich, tänzerisch, in Interaktio­n mit dem Publikum und vor Projektion­en führt Behr den Zuschauern die Konsequenz­en ihrer Entscheidu­ngen spannend vor – auch wenn es v.a. die populärwis­senschaftl­ich gängigen Klischees sind.

Bei „Frau Mehrs“alias Bärbel Aschenberg­s metaphysis­cher Station wird klar, dass anstatt einer mechanisch­e Konstrukti­on wir alle im Hamsterrad unserer modernen Gesellscha­ft es sind, die ständig laufen, bevor Rebecca Dirler als Harmony reloaded mit einer letzten Frage – Unsterblic­hkeit? – das Publikum halb fasziniert, halb rätselnd entlässt. „Perpetuum“ist kein Selbstläuf­er. Dem Theaterabe­nd muss, träge angestoßen­d, im Verlauf gehörig Energie zugeführt werden. Texte von Stefan und Regie von Bille Behr sind stellenwei­se gut bis genial, in Summe und Kombi mit den weniger glückenden Stationen aber Ballast für genau das, was Anu eigentlich wunderbar kann: Sein Publikum mit großen, gewaltigen Bildern verzaubern und en passant dessen Intellekt beschäftig­en.

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Foto: Theater Anu Frau Mehr (Bärbel Aschenberg) kann nicht genug bekommen.

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