Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Heinrich Mann: Der Untertan (121)
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut schen Kaiserreich um 1900 zu einem intriganten und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogramm eines Nationalisten. ©Projekt Gutenberg
Einen Freispruch hätte das Volk nicht verstanden“, sagte er am Stammtisch. „Die Monarchie ist unter den politischen Regimen eben das, was in der Liebe die strengen und energischen Damen sind. Wer dementsprechend veranlagt ist, verlangt, daß etwas geschieht, und mit Milde ist ihm nicht gedient.“Hier errötete Diederich. Leider bekundete Buck solche Gesinnungen nur, solange er nüchtern war. Späterhin gab er durch seine von früher her sattsam bekannte Art, die heiligsten Güter in den Schmutz zu ziehen, Gelegenheit genug, ihn aus jeder anständigen Gesellschaft auszuschließen. Diederich war es, der ihn vor diesem Schicksal bewahrte. Er verteidigte seinen Freund. „Die Herren müssen bedenken, er ist erblich belastet, denn die Familie weist Anzeichen einer schon ziemlich weit vorgeschrittenen Degeneration auf. Andererseits spricht es für einen gesunden Kern in ihm, daß das Schauspielerdasein ihn denn doch nicht befriedigt hat und daß er zu seinem
Beruf als Rechtsanwalt zurückgefunden hat.“Man erwiderte, es sei verdächtig, wenn Buck sich über seine fast dreijährigen Erfahrungen beim Theater so völlig ausschweige. War er überhaupt noch satisfaktionsfähig? Diese Frage konnte Diederich nicht beantworten; es war ein logisch nicht begründeter, aber tiefsitzender Drang, der ihn dem Sohn des alten Buck immer wieder näherte. Immer wieder nahm er mit Eifer eine Unterredung auf, die doch jedesmal schroff abbrach, nachdem sie die schärfsten Gegensätze bloßgelegt hatte.
Er führte Buck sogar in sein Heim ein, erlebte dabei aber eine Überraschung. Denn wenn Buck anfangs wohl nur einem besonders guten Kognak zuliebe kam, bald kam er sichtlich wegen Emmi. Die beiden verstanden sich, über Diederich hinweg und in einer Art, die ihn befremdete. Sie führten spitze und scharfe Gespräche, anscheinend ohne das Gemüt oder die anderen Faktoren, die der Verkehr der Geschlechter normalerweise in Betrieb setzte; und senkten sie die Stimmen und wurden vertraulich, fand Diederich sie vollends unheimlich. Er hatte nur die Wahl, ob er dazwischenfahren und korrekte Verhältnisse herstellen oder aber das Zimmer verlassen wollte. Zu seinem eigenen Erstaunen entschied er sich für das letztere. ,Sie haben beide sozusagen ihre Schicksale gehabt, wenn die Schicksale auch danach waren‘, sagte er sich mit der Überlegenheit, die ihm zukam, und ohne viel darauf zu achten, daß er im Grunde stolz war auf Emmi, stolz, weil Emmi, seine eigene Schwester, fein genug, besonders genug, ja, fragwürdig genug schien, um sich mit Wolfgang Buck zu verständigen. ,Wer weiß‘, dachte er zögernd, und dann entschlossen: ,Warum nicht! Bismarck hat es auch so gemacht mit Österreich. Zuerst niedergeworfen, dann ein Bündnis!‘
Aus diesen noch dunklen Überlegungen heraus widmete Diederich auch dem Vater Wolfgangs wieder ein gewisses Interesse. Der alte Buck, von einem Herzleiden befallen, kam nur mehr selten zum Vorschein, und dann stand er die meiste Zeit vor irgendeinem Schaufenster, scheinbar in die Auslage vertieft, in Wirklichkeit aber einzig bemüht, zu verbergen, daß er nicht atmen konnte. Was dachte er? Wie urteilte er über die neue geschäftliche Blüte Netzigs, den nationalen Aufschwung und über die, die jetzt die Macht hatten? War er überzeugt und auch innerlich besiegt? Es kam vor, daß Generaldirektor Doktor Heßling, der mächtigste Mann der Bürgerschaft, sich heimlich in ein Haustor drückte, um dann ungesehen hinterdreinzuschleichen hinter diesem einflußlosen, schon halb vergessenen Alten: er auf seiner Höhe rätselhaft beunruhigt durch einen Sterbenden. Da der alte Buck seine Hypothekenzinsen nur noch mit Verspätung zahlte, schlug Diederich dem Sohn vor, er wolle das Haus übernehmen. Natürlich dürfe der alte Herr es bewohnen, solange er lebe. Auch die Einrichtung wollte Diederich kaufen und sogleich bezahlen. Wolfgang bestimmte den Vater, anzunehmen.
Inzwischen ging der 22. März 1897 vorüber, Wilhelm der Große war hundert Jahre alt geworden, und sein Denkmal stand noch immer nicht im Volkspark. Die Interpellationen in der Stadtverordnetenversammlung nahmen kein Ende, mehrmals waren unter schweren Kämpfen Nachtragskredite bewilligt und wieder überschritten worden. Der schwerste Schlag hatte die Gemeinde getroffen, als Seine Majestät den höchstseligen Großvater als Fußgänger ablehnten und ein Reiterstandbild befahlen. Diederich, von Ungeduld getrieben, ging des öfteren am Abend in die Meisestraße, um sich vom Stand der Arbeiten zu überzeugen. Es war Mai und peinlich warm noch in der Dämmerung, aber auf dem leeren, neu angepflanzten Areal des Volksparkes ging ein Luftzug. Diederich sann wieder einmal mit gereizten Gefühlen dem glänzenden Geschäft nach, das der Rittergutsbesitzer Herr von Quitzin hier gemacht hatte. Der hatte es bequem gehabt! Grundstücksgeschäfte waren kein Kunststück, wenn der Vetter Regierungspräsident war. Die Stadt mußte ihm einfach das Ganze abnehmen für das Kaiser-WilhelmDenkmal und mußte zahlen, was er verlangte. Da tauchten zwei Gestalten auf; Diederich sah rechtzeitig, wer es war, und zog sich ins Gebüsch zurück.
„Hier läßt sich atmen“, sagte der alte Buck. Sein Sohn erwiderte: „Wenn einem hier nicht die Lust dazu vergeht. Sie haben anderthalb Millionen Schulden gemacht, um dieses Müllager zu schaffen.“Und er zeigte auf den unfertigen Aufbau von steinernen Sockeln, Adlern, Rundbänken, Löwen, Tempeln und Figuren. Die Adler setzten flügelschlagend ihre Krallen in den noch leeren Sockel, andere Exemplare nisteten wieder auf jenen, die Rundbänke
symmetrisch unterbrechenden Tempeln; dort holten aber auch Löwen zum Sprung aus nach dem Vordergrund, wo ohnehin Aufregung genug herrschte durch flatternde Fahnen und heftig agierende Menschen. Napoleon der Dritte, in der geknickten Haltung von Wilhelmshöhe die Rückwand des Sockels zierend, als Besiegter hinter dem Triumphwagen, war überdies immer in Gefahr, von einem Löwen angefallen zu werden, der gerade hinter ihm, auf der Treppe des Monuments, seinen schlimmsten Buckel machte – wohingegen Bismarck und die anderen Paladine, mitten im Tierkäfig wie zu Hause, vom Fuß des Sockels mit allen Händen hinauflangten, um mit anzugreifen bei den Taten des noch abwesenden Herrschers.
„Wer müßte nun dort oben einhersprengen?“fragte Wolfgang Buck. „Der Alte war nur ein Vorläufer. Dies mystisch-heroische Spektakel wird nachher mit Ketten von uns abgesperrt sein, und wir werden zu gaffen haben: was von allem der Endzweck war. Theater, und kein gutes.“
Nach einer Weile, die Dämmerung graute, sagte der Vater: „Und du, mein Sohn? Auch dir schien es einmal der Endzweck, zu spielen.“
„Wie meinem ganzen Geschlecht.