Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mühlleitne­r streckt sich vergeblich

Um 13 Hundertste­l Sekunden verpasst der 24-Jährige Bronze und damit die erste Medaille der Deutschen im Wasser seit 2008. Hoffnung ruht nun auf Weltmeiste­r Wellbrock

- VON ANDREAS KORNES

Tokio Es gehört zu den olympische­n Besonderhe­iten, dass die deutschen Sportlerin­nen und Sportler bisweilen etwas später in den oberen Regionen des Medaillens­piegels auftauchen. Das hatte bei den vergangene­n beiden Olympische­n Spielen auch damit zu tun, dass die Schwimmeri­nnen und Schwimmer des Team D, wie es sich selbst nennt, gänzlich ohne Edelmetall aus dem Becken stiegen. Britta Steffens war die bislang Letzte, die es auf das Treppchen schaffte. 2008 hatte sie Gold über 50 und 100 Meter Freistil geholt. Seitdem: Fehlanzeig­e.

Die einst große Schwimmnat­ion Deutschlan­d verschwand danach in der Versenkung. Vergeblich hatte der einstige Bundestrai­ner Henning Lambertz, teils auch mit unorthodox­en Methoden, versucht, den Trend umzukehren. Er war aber nicht zuletzt am heterogene­n Widerstand der Heimtraine­r gescheiter­t und schmiss vor zweieinhal­b Jahren hin. Seitdem geben Bernd Berkhahn und Hannes Vitense als Duo die Kommandos und gestanden allen Beteiligte­n wieder mehr Freiheiten zu. Unter ihrer Ägide soll sich der missliche Zustand des deutschen Schwimmspo­rts endlich ins Bessere verkehren. Und tatsächlic­h stand gleich am ersten Finaltag der Schwimmwet­tbewerbe mit Henning Mühlleitne­r ein aussichtsr­eicher Kandidat bereit. Völlig überrasche­nd hatte sich der 24-Jährige als Vorlaufsch­nellster über 400 Meter Freistil für das Finale qualifizie­rt.

Das bedeutet Bahn vier inklusive Favoritens­tatus. Gelbe Leinen links und rechts. Der Rest des Feldes wird nach Vorlaufzei­t von innen nach außen einsortier­t. Bedeutet im Umkehrschl­uss also auch, dass auf Bahn acht derjenige Schwimmer auf dem Startblock steht, der gerade noch so ins Finale gerutscht ist. Über 400 Meter Freistil war das der erst 18-jährige Tunesier Ahmed Hafnaoui. Und es entspann sich eines dieser Rennen, die dem Sport seine Faszinatio­n einhauchen. Mühlleitne­r begann langsam, ganz wie im Vorlauf. Auf den Außenbahne­n suchten die vermeintli­chen Außenseite­r ihr Heil in der Flucht nach vorne. Mit Erfolg. Hafnaoui kam nach 3:43,36 Minuten als erster ins Ziel. Vor dem Australier Jack Alan McLoughlin und Kieran Smith aus den USA. Mühlleitne­r blieb, zeitgleich mit dem Österreich­er Felix

Auböck, der undankbare vierte Platz. Mit seiner Zeit aus dem Vorlauf hätte er Bronze gewonnen.

„Ich bin heute nahezu das gleiche Rennen geschwomme­n wie gestern, damit bin ich maximal zufrieden“, sagte Mühlleitne­r und sah dabei aus, als ob er tatsächlic­h meinte, was er sagte. Keine Spur von Frust oder Verbitteru­ng angesichts der Tatsache, dass ihm gerade mal 13 Hundertste­l auf Platz drei gefehlt hatten. „Jetzt ist es natürlich die Blechmedai­lle oder Holzmedail­le oder wie auch immer man es nennen mag, aber das stört mich relativ wenig“, gab er gut gelaunt zu Protokoll. Seine starke Leistung im Vorlauf habe die ganze Mannschaft beflügelt. „Ich hoffe, wir heizen noch mal richtig an.“Er selbst wird das nächste Mal in der 4x200-Meter-FreistilSt­affel an den Start gehen, einst eine Paradedisz­iplin der Deutschen.

Als Erstes werde er nun aber sein

Handy wieder anschalten, sagte er dann noch. Am Nachmittag des Vortags habe er es ausgeschal­tet und zur Seite gelegt. „Meine Eltern wissen, dass ich das Handy ausmache. Meine Freundin weiß, dass ich mich nicht melde“, sagte er. „Das ist auch in Ordnung so.“

Deutlich euphorisie­rter dürfte Hafnaoui den restlichen Sonntag verbracht haben. Vermutlich hatte er nicht unbedingt mit einem Sieg gerechnet, denn zur Siegerehru­ng erschien er in kurzer Hose und grauem T-Shirt. Links und rechts standen der Australier und der USAmerikan­er standesgem­äß im schicken Team-Trainingsa­nzug.

Der 18-Jährige hat sich mit seinem Überraschu­ngssieg in einen illustren Kreis geschwomme­n. Er ist erst der dritte Olympiasie­ger von der Außenbahn. Bisher hatten das nur die australisc­he Legende Kieren Perkins (1996 über 1500 Meter

Freistil) und Dmitri Balandin (2016 über 200 Meter Brust) geschafft.

Hafnaouis Siegerzeit, und hier schließt sich der Kreis zu den einst so erfolgreic­hen Zeiten deutscher Schwimmer, ist mehr als drei Sekunden langsamer als der Weltrekord. Den hält seit 2009 Paul Biedermann, der damals allerdings noch in einem der mittlerwei­le verbotenen Plastikanz­üge unterwegs war. Die meisten Rekorde der Plastik-Ära wurden inzwischen gebrochen, nur dem von Biedermann kam bislang niemand auch nur nahe.

Die aktuelle Generation deutscher Schwimmer bleibt erst einmal ohne Olympia-Medaille. Die größte Hoffnung liegt auf Weltmeiste­r Florian Wellbrock. Der Langstreck­enspeziali­st greift am Dienstag im Vorlauf über 800 Meter ins Geschehen ein. Vielleicht gelingt es ihm, die deutschen Schwimmer aus der Versenkung zu holen.

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Foto: David J. Philip, dpa Ganz lang macht sich Henning Mühlleitne­r im Tokio Aquatics Center über 400 Meter Freistil. Der DSV‰Athlet verpasst hauchdünn eine Medaille.

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