Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wie ein Anruf die Geschichte ins Rollen brachte
Immer wieder kam es in der Vergangenheit im Josefsheim Reitenbuch und im Marienheim Baschenegg zu Übergriffen. Nach einer Zeitungsserie setzte die Diözese eine Expertenkommission zur Aufklärung ein
Auf fast 100 Seiten hat die Diözese in dieser Woche die Ergebnisse ihrer fast zweijährigen Untersuchung zu den Missbrauchsvorfällen im Josefsheim Reitenbuch und im Marienheim Baschenegg veröffentlicht. Den Anstoß dazu gab die Berichterstattung dieser Redaktion. Sie geht auf eine lange Recherche zurück, die mit einem Telefonat begann.
Es war im Juni 2019. Ein Mann aus dem westlichen Landkreis meldete sich bei der Lokalredaktion. Er habe etwas Unfassbares erfahren. Das könne er nicht für sich behalten. Das müsse an die Öffentlichkeit, sagte er. Um was es ging, wurde bei einem ersten Treffen klar.
Der Informant berichtete von einem Bekannten, der sich ihm anvertraut hatte. Er sei in den 1970erJahren als Bub im Josefsheim in Reitenbuch gewesen. Ein Pfarrer habe ihn dort wieder und wieder vergewaltigt. Damals sei sein Leben zerstört worden. Schwere Vorwürfe, die sich zunächst nicht beweisen ließen, aber auch nicht ungehört bleiben durften. Es folgten weitere Telefonate. Immer mehr Details kamen auf den Tisch. Würde das Opfer auch selbst berichten? Der Informant überzeugte seinen Bekannten, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Bei einem weiteren Treffen in einem Privathaus schilderte der Mann dann mit zitternder Stimme, wie das Frühjahr 1971 sein Leben verändert sollte.
Peter W. (Name geändert) war damals elf Jahre alt und im Heim in Reitenbuch untergebracht. Die Dillinger Franziskanerinnen leiteten die Einrichtung in dem kleinen Dorf am Rand der Stauden. Auch ein Ruhestandsgeistlicher lebte dort. Er hatte es auf den Elfjährigen abgesehen. „In seinem Arbeitszimmer setzte er sich hin und drückte mich. Er begann auch, mich zu streicheln“, berichtet Peter W. 50 Jahre danach. Dem Buben sei das nicht komisch vorgekommen. Denn: „Das war an guten Tagen manchmal auch bei den Klosterschwestern so, was ich immer sehr schön und angenehm empfunden habe.“Dann habe der Pfarrer vorgeschlagen, dass Peter doch für ihn ministrieren könne. Der Bub sagte zu. Peter W. erinnert sich: „Ich fand Ministrieren toll. Es machte mir Spaß.“
Zur Vorbereitung habe der Pfarrer
Opfer Peter W.
„Übungsstunden“abgehalten. Doch die hatten nichts mit der Vorbereitung auf den Kirchendienst zu tun. Peter musste sich ausziehen, sich auf den Schoß des Pfarrers setzen und ihn streicheln. Peter, gerade einmal elf Jahre alt, begann zu weinen. „Er hat dann gesagt, ich müsste keine Angst haben, das sei nichts Schlimmes“, erinnerte er sich. Doch es wurde schlimmer. „Ich bin dann für mindestens eine halbe Stunde aufs Klo gegangen und habe nur noch geweint und zwanghaft meine Hände gewaschen. Es hat mich so gegraust.“Einmal habe er sich vor Ekel erbrechen müssen. Der Pfarrer habe ihn dann geohrfeigt und ihm befohlen, das Erbrochene aufzuwischen.
Die Übergriffe wurden immer heftiger. Bis zu seinem 15. Geburtstag ging Peter W. durch die Hölle. Er blutete, weinte, schrie - dann habe ihm der Pfarrer den Mund zugehalten. In der Schule wurde er zusehends schlechter. Mit 16 Jahren begann er eine Ausbildung. Peter hatte Abstand vom Pfarrer. Aber
Ruhe. Denn die Bilder vom Missbrauch konnte er nicht vergessen. Peter W. litt jahrelang an Schlaflosigkeit und Albträumen. „Ich bildete mir ein, dass ich an allem schuld sei.“Einmal wollte er auf einer Heimfahrt von einer Freundin sein Auto gegen einen Baum lenken. „Dann wäre alles vorbei gewesen.“Peter W. stürzte sich in noch mehr Arbeit, um zu vergessen. Doch dann kam der Zusammenbruch. Mit 44 Jahren ein leichter Herzinfarkt, eine OP, dann Aufenthalte in zwei Kliniken. Nach über 40 Jahren vertraute er sich einer Psychologin an. Peter W. offenbarte sich ihr. Er sagte, dass er sich schmutzig und schuldig fühle.
Die Psychologin riet ihm, alles aufzuschreiben. Auf über 20 Seiten hielt er seine Erinnerungen fest. Der Titel: „Mein kaputtgemachtes Leben.“Die intimen Aufzeichnungen sind erschütternd. Der Mann beschreibt darin, wie ihn der Missbrauch seelisch und körperlich aus der Bahn geworfen hat. Er konnte auch keine Beziehung mehr führen.
Es kam zu einem weiteren Treffen mit dem Opfer. Mit dabei eine Frau, die früher als Mädchen im Heim war. Schläge und Kränkungen durch die Klosterschwestern seien an der Tagesordnung gewesen, berichtete sie. Am Ende des Treffens meldete sich ein weiteres Opfer: Am Telefon berichtete der Mann, wie er früher als Bub von Mitarbeitern des Heims am Nikolaustag in einen Sack gesteckt worden war. Was offenbar ein Spaß sein sollte, eskalierte: Der Bub stand Todesängste aus, als ihm eröffnet wurde, dass er in den noch heißen Backofen des Heims geworfen werden sollte. Er rang um sein Leben und knallte schließlich auf eine heiße Platte. Haut verbrannte.
Die ersten Augenzeugenberichte waren sehr emotional. Aber waren sie auch glaubwürdig und plausibel? Die Recherche musste breiter angelegt werden. Die Kernfrage: Gibt es weitere Quellen, die über Missbrauch und Gewalt in den 1970erJahren in Reitenbuch berichteten und bestätigen können, was sich im Josefheim abgespielt hatte? Wurden damals Anzeigen bei der Polizei gestellt? Gab es vielleicht Berichte in der Tageszeitung? Die Suche im Zeitungsarchiv hatte zunächst keinen Erfolg. Dann ein Treffer: Vor elf Jahren wurde erstmals über Missbrauch im Heim berichtet. Ein Dutzend Opfer hatte eidesstattliche Erklärungen abgegeben. Die Klosterschwestern aus Dillingen, die bis 1999 die pädagogische Leitung in Reitenbuch und bis 2011 in Baschenegg hatten, baten in einer Erklärung um Vergebung. Offenbar hatten sie sich auch bereit erklärt, an einer Aufarbeitung mitzuwirken. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Vorermittlungsverfahren ein. Doch was war daraus geworden?
Entsprechende Unterlagen ließen sich 2019 bei der Staatsanwaltschaft nicht mehr auffinden. Auch bei der Polizei gab es keine Hinweise. Dafür meldeten sich weitere Opfer und berichteten über die brutalen Erziehungsmethoden im Heim. Ein Bekeine troffener erinnerte daran, dass sich viele seiner damaligen Freunde nach ihrer Zeit im Kinderheim später das Leben genommen hätten.
In der Redaktion wurde nach den wochenlangen Recherchen klar, dass nur ein Bericht alleine die Tragweite des Themas nicht fassen kann. Mit einer Serie sollten mehr Aspekte ausgeleuchtet werden. Sie startete im Herbst 2019. Es ging um das Schicksal von Peter W. und die Frage, warum Opfer lange schweigen. Experten berichteten über die große Angst und das ambivalente Verhältnis von Kindern zu Tätern. Ein weiterer Bericht befasste sich mit der Frage, auf welche Unterstützung Peter W. hoffen kann. Sein Wunsch: Weil er nach seiner Erkrankung nicht mehr richtig arbeiten konnte, möchte er nicht in Armut sterben, sondern im Alter eine normale Rente beziehen. Außerdem soll die Kirche seine Therapiekosten übernehmen, falls die Krankenkasse nicht mehr zahlen sollte. Derzeit bleiben Peter W. jeden Monat rund 200 Euro zum Leben.
Mit einem Interview richtete sich der Blick in der Berichterstattung auch nach vorne: Könnte es Missbrauchsfälle heute noch im Heim geben? Diözesan-Caritasdirektor Andreas Magg, seit 2007 Vorsitzender des Trägervereins, Heimleiter Norbert Haban und die Sozialpädagogin Maria Schwarz berichteten aus der Praxis.
Nach der Zeitungsserie entschied sich die Diözese im Dezember 2019, dass eine unabhängige Expertengruppe die Vorfälle in Reitenbuch untersuchen soll. Deren Mitglieder machten sich auf die Suche nach weiteren Missbrauchsopfern in der Zeit von 1950 bis 1985. Dass diese Missstände nicht bereits früher aufgeklärt worden waren, sei ein „schweres Versäumnis“, erklärte Andreas Magg. Er sprach von „regelrechten Prügelattacken“und „religiöser Strenge“, die leider nicht mehr ungeschehen gemacht werden könne. Heute könne man nur „für jegliche Form von erfahrener körperlicher und sexuelle Gewalt um Vergebung bitten“. Vor dem Start der Untersuchung brachte Magg bereits die Frage ins Gespräch, ob es ein „System Reitenbuch“gegeben hatte. Die Untersuchungen bestätigten seine Vermutung.
Im Laufe von zwei Jahren - die Pandemie erschwerte die Arbeit der Expertengruppe – meldeten sich über 30 Opfer. Im geschützten Rahmen konnten sie berichten, was ihnen im Josefs- oder im Marienheim widerfahren ist. Aus ihren Schilderungen und Informationen aus Akten entstand der Bericht, der jetzt öffentlich ist. Die transparente Aufklärung soll als Grundlage dienen, die Vorfälle möglichst umfassend aufzuarbeiten und eine Erinnerungskultur zu etablieren. Sie soll außerdem Prävention sein, dass sich „ein System Reitenbuch“nicht wiederholt. Ein früheres Opfer sagt dazu: „Die Geschichte wird nie abgeschlossen sein. Sie ist erst zu Ende, wenn das letzte Heimkind von damals gestorben ist.“
„Ich bin dann für mindestens eine halbe Stunde aufs Klo gegangen und habe nur noch geweint und zwanghaft meine Hände gewaschen. Es hat mich so gegraust.“