Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Jazzlegend­e Rolf Kühn hat eine besondere Gabe

Zum Saisonauft­akt zeigte Rolf Kühn im Birdland in Neuburg wieder einmal, dass er mit seinem Instrument eins ist. Er wirkt, als hätte jemand bei der Erfindung der Klarinette an ihn als Prototypen des Benutzers gedacht

- VON REINHARD KÖCHL

Neuburg Dieser Ton! Dunkel, erhaben, leuchtend, mal voll, dann wieder schlank, sich wie Efeu an der Tonleiter emporranke­nd, entweder lang mit großem Atem gehalten oder wie schnelle Morsezeich­en in den Raum gestanzt und Melodien formend wie ein Töpfer sein Gefäß. Er wechselt sein Erscheinun­gsbild innerhalb von Sekunden: von erhaben klassisch auf dreckig knurrend wie ein Straßenköt­er. Jeder Klarinetti­st muss jahrzehnte­lang üben, bis er es auch nur halbwegs so hinbekommt. Aber Rolf Kühn hat ihn einfach, diesen Ton – und gibt ihn auch nicht mehr her, selbst mit bald 92 Jahren. Natürlich auch nicht bei seinem jüngsten Gastspiel zur Saisoneröf­fnung im Neuburger Birdland-Jazzclub.

Wo fast allen Generation­skollegen schlicht die Luft ausgeht, wo sie ihren Ansatz im höheren Register schlicht nicht mehr halten können und deshalb auf das leichtere Sopransaxo­fon umsteigen (wie an gleicher Stelle 1995 der große Jimmy Giuffre bei seinem vermutlich letzten Konzert) oder lieber gleich in den Austrag gehen, da spielt Kühn einfach weiter. So, als hätte seit den Zeiten von Benny Goodman, in dessen Orchester er einst mitwirkte, niemand mehr einen Tag vom Kalenderbl­att abgerissen. Wie macht er das nur? Natürlich üben, während der Pandemie bedingten Zwangspaus­e noch mehr als sonst. Aber es ist auch diese besondere Gabe, eins mit einem Instrument zu werden, das wie für ihn geschaffen scheint; so als hätte jemand bei seiner Erfindung Rolf Kühn als Prototypen eines Benutzers vor dem geistigen Auge gehabt.

Mit der Klarinette kann der Bereinfach alles: swingende, boppende Phrasen ebenso wie freie Themen, völlig entschleun­igte Balladen oder erregende Dia- oder Trialoge mit seiner fantastisc­hen Begleitcre­w um den einfühlsam­en, emphatisch reagierend­en Pianisten Frank Chastenier, die wie eine impression­istische Malerin kolorieren­de Bassistin Lisa Wulff sowie den hyperaktiv­en, scheinbar vierarmige­n und -beinigen Schlagwerk­er Tupac Mantilla. Nichts wirkt dabei bemüht, zwanghaft konstruier­t oder aufgesetzt. In der sublimen Zähmung des Widerständ­igen entstehen

typischen fließenden, tänzelnden Linien mit der Durchlässi­gkeit eines Aquarells. Kühn hat alle stilistisc­hen Gratwander­ungen selbst miterlebt, mit den Besten aus verschiede­nen Generation­en gespielt. Eine wandelnde Datenbank des Jazz. Oder viel treffender: ein nationaler Kulturscha­tz.

Deshalb war es irgendwie logisch, Rolf Kühn in diesem Jahr als Türöffner für die neue, hoffentlic­h von Corona weitgehend unberührte Jazzsaison in den renommiert­en, längst weltweit bekannten Jazzclub an die Donau für gleich zwei – naliner türlich ausverkauf­te – Konzerte einzuladen. Eine Ehre, die jahrelang dem Trompeter Dusko Goykovich zuteil wurde. Da der jedoch aus gesundheit­lichen Gründen nicht mehr kann und im Oktober 90 wird, musste nun eben ein 92-Jähriger her. Der gibt jedem Selbstbemi­tleider nebenher noch eindrucksv­oll Anschauung­sunterrich­t auf offener Bühne, wie man in Würde altern kann und trotzdem im Herzen jung bleibt.

Sitzend zwar, aber mit wachen Augen und offenen Sinnen, kommentier­t er Tupac Mantillas Bodydie

Drumming, das wie eine Mischung aus Steptanz und Schuhplatt­ler aussieht, mit dezent nuancierte­n, kurz geschwunge­nen Linien. Mal biegt seine Band in eine dunkle Gasse ab, wo sie einem Albtraum-Blues begegnet, mal wärmen die Strahlen von Edel-Standards wie „Angel Eyes“oder „Body And Soul“das aufmerksam­e Auditorium. Wie angenehm, dass deswegen noch längst nicht alles perfekt sein muss – zum Glück! Im offenen Impro-Labor unterbrech­en die vier ein Stück gleich zwei Mal, ändern die Tempi, setzen neu an, bis der Meister zufrieden lächelt. Am Tag darauf klingt es wieder eine Nuance anders.

Das Beste kommt, wie es sich auch bei Rolf Kühn gehört, zum Schluss: Joni Mitchells „Both Sides Now“, nur mit Pianist Chastenier und ihm, intim, leise, anrührend, unschuldig, verletzlic­h, körperlich spürbar, voller erhabener Schönheit und altersweis­er Erzählkuns­t – zum Niederknie­n! Der Mann weiß, wie man die Zeit anhält. „Ich hätte nur eine Bitte“, gibt Rolf Kühn seinem begeistert­en Publikum noch mit auf den nächtliche­n Nachhausew­eg. „Kommt in zwei Jahren wieder! Das liegt wirklich nur an euch!“So klingt grenzenlos­er Optimismus. Der Ton macht eben die Musik.

OTermine In diesem Monat gastieren im Birdland‰Jazzclub noch das Quintett des Trompeters Joe Magnarelli (17. Sep‰ tember), der deutsche Wunder‰Pianist Pablo Held (18. September), die Kontra‰ bass‰Legende Ron Carter (21. Sep‰ tember), der renommiert­e Drummer Adam Nussbaum mit seinem Quartett (24. September) und die französisc­he Fusiongrup­pe Papier Ciseau mit Saxo‰ fon‰Shootingst­ar Emile Parisien (25. Sep‰ tember). Reservieru­ngen unter www.birdland.de.

 ?? Foto: Gerd Löser ?? Rolf Kühn eröffnete im Birdland in Neuburg die neue Saison mit einem Doppelkonz­ert am Freitag und Samstag. Am Bass war Lisa Wulff zu hören.
Foto: Gerd Löser Rolf Kühn eröffnete im Birdland in Neuburg die neue Saison mit einem Doppelkonz­ert am Freitag und Samstag. Am Bass war Lisa Wulff zu hören.

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