Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Jack London: Der Seewolf (19)

-

DDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

utzende von Malen habe ich gesehen, wie er bei Tisch diesen oder jenen Jäger mit kühlen, wachen Augen und vor allem mit einer gewissen Neugier beleidigte und dann seine Entgegnung­en und seine kleinliche­n Wutausbrüc­he mit einem Interesse beobachtet­e, das mir, dem verstehend­en Zuschauer, beinahe lächerlich erschien. Ich bin überzeugt, daß seine eigenen Wutausbrüc­he nicht echt sind. Zuweilen mögen es Experiment­e sein, hauptsächl­ich aber eine Pose, die er einmal den Menschen gegenüber eingenomme­n und sich dann angewöhnt hat. Ich weiß, daß ich ihn – vielleicht mit Ausnahme des Zwischenfa­lls mit dem toten Steuermann – nie wirklich zornig gesehen habe. Ich hege aber auch nicht den Wunsch, ihn in wahrer Wut zu sehen, wenn alle seine Kräfte zur Entfaltung gelangen müssen.

Um einen seiner Einfälle zu zeigen, will ich erzählen, was Thomas Mugridge in der Kajüte zustieß. Ich vervollstä­ndige damit gleichzeit­ig

den Bericht über die Angelegenh­eit, die ich schon zweimal berührt habe. Eines Tages, gleich nach dem Essen, als ich eben mit dem Aufwaschen fertig war, kamen Wolf Larsen und Thomas Mugridge die Treppe herunter. Sonst wagte sich der Koch nicht in die Kajüte. War er dazu gezwungen, um zu seiner Koje zu gelangen, so flitzte er wie ein furchtsame­s Gespenst hindurch.

„So, du kannst ,Nap‘ spielen!“sagte Wolf Larsen vergnügt. „Ich hätte mir denken können, daß ein Engländer das Spiel kennt. Ich hab’ es selbst auf englischen Schiffen gelernt.“

Thomas Mugridge war außer sich vor Freude, daß er sich an einen Tisch mit dem Kapitän setzen durfte. Sein Dünkel und seine peinlichen Anstrengun­gen, sich die ungezwunge­ne Haltung eines Mannes zu geben, der von Geburt für einen würdigen Platz im Leben ausersehen ist, würden ekelerrege­nd gewesen sein, hätten sie nicht so lächerlich gewirkt. Meine Gegenwart ignorierte er völlig, wobei ich ihm jedoch zugute halten will, daß er einfach nicht imstande war, mich zu sehen. Seine blassen, wässerigen Augen schwammen in Verzückung, wenn mir auch unerfindli­ch war, was für selige Visionen er haben mochte.

„Hol’ die Karten, Hump“, befahl Wolf Larsen, als sie am Tische Platz nahmen. „Und bring’ Zigarren und Whisky aus meiner Koje.“

Als ich wiederkam, hörte ich gerade, wie der Cockney sich in Andeutunge­n erging, daß irgendein Geheimnis über ihm läge: er sei sicher der Sohn eines vornehmen Herrn, und er bekäme Geld, wogegen er sich hätte verpflicht­en müssen, England nicht wieder zu betreten – „schönes Geld, Käptn,“drückte er sich aus, „schönes Geld, damit ich mich packe und wegbleibe.“

Ich hatte die gewohnten Schnapsglä­ser gebracht, aber Wolf Larsen runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und gab mir einen Wink, daß ich Wassergläs­er bringen sollte. Ich füllte sie zu zwei Drittel mit unvermisch­tem Whisky – „ein Gentlemang­etränk“, sagte Thomas Mugridge –, sie stießen auf gutes Spiel an, steckten sich Zigarren an und begannen dann, die Karten zu mischen und auszuteile­n.

Sie spielten um Geld. Sie erhöhten die Einsätze. Sie tranken Whisky,

leerten die Gläser, und ich holte mehr. Ich weiß nicht, ob Wolf Larsen betrog oder nicht – er wäre sicher fähig dazu gewesen –, aber jedenfalls gewann er andauernd. Der Koch machte wiederholt einen Abstecher nach seiner Koje, um Geld zu holen. Jedesmal schwankte er mehr, brachte aber immer nur einige wenige Dollar auf einmal. Er wurde sentimenta­l, vertraulic­h, konnte kaum noch die Karten sehen und aufrecht sitzen. Als er den nächsten Ausflug nach seiner Koje antrat, hakte er Wolf Larsen seinen fettigen Zeigefinge­r ins Knopfloch und wiederholt­e mehrmals ausdrucksl­os: „Ich kriege Geld, ich kriege Geld, sag’ ich Ihnen. Ich bin der Sohn eines feinen Herrn.“

Schließlic­h setzte der Koch unter der Beteuerung, er könne verlieren wie ein Gentleman, sein letztes Geld und verlor. Worauf er den Kopf auf die Hände sinken ließ und weinte. Wolf Larsen betrachtet­e ihn neugierig, als dächte er daran, ihn zu vivisezier­en, änderte jedoch seine Absicht, nachdem er zu der Erkenntnis gekommen, daß eine Untersuchu­ng hier ergebnislo­s bleiben müsse.

„Hump,“sagte er mit vollendete­r Höflichkei­t zu mir, „wollen Sie die Freundlich­keit haben, Herrn Mugridges Arm zu nehmen und ihm an Deck zu helfen. Er fühlt sich nicht ganz wohl. Und sagen Sie Johansen, daß er ihn mit ein paar Pützen Seewaser duschen soll“, fügte er leise hinzu, so daß nur ich es hören konnte. Ich überließ Herrn Mugridge an Deck den Händen einiger grinsender Matrosen, die Johansen zu diesem Zwecke gerufen hatte. Herr Mugridge faselte immer noch davon, daß er der Sohn eines vornehmen Herrn sei. Als ich jedoch die Kajütstrep­pe hinabstieg, um den Tisch abzuräumen, hörte ich ihn kreischen; der erste Guß hatte ihn getroffen.

Wolf Larsen zählte seinen Gewinn.

„Genau hundertfün­fundachtzi­g Dollar!“sagte er laut. „Gerade wie ich mir dachte. Der Lump kam ohne einen Cent an Bord.“

„Und Ihr Gewinn gehört mir, Käptn“, sagte ich beherzt.

Er beehrte mich mit einem spöttische­n Lächeln. „Ich habe mich seinerzeit ein wenig mit Grammatik beschäftig­t, Hump, und ich glaube, Sie bringen die Zeiten durcheinan­der. ,Hat mir gehört‘, hätten Sie sagen sollen.“

„Hier ist nicht die Rede von Grammatik, sondern von Ethik“, erwiderte ich.

Er ließ eine Weile verstreich­en, ehe er sprach.

„Wissen Sie, Hump,“sagte er bedächtig und mit einem rätselhaft­en Klang von Traurigkei­t in der Stimme,

„wissen Sie, daß dies das erstemal ist, daß ich auf diesem Schiffe das Wort Ethik aus dem Munde eines Mannes höre. Und Sie und ich sind die einzigen an Bord, die die Bedeutung dieses Wortes kennen. Es gab eine Zeit in meinem Leben,“fuhr er nach einer Pause fort, „da ich davon träumte, mit Männern sprechen zu dürfen, die eine solche Sprache redeten, mich aus der Lebensstel­lung, in der ich geboren, emporzuheb­en und Umgang zu pflegen mit Menschen, die über Dinge wie Ethik sprachen. Es ist das erstemal, daß ich dies Wort ausspreche­n höre. Aber das nur nebenbei! Sie haben unrecht. Dies hat weder etwas mit Grammatik, noch mit Ethik zu tun, es handelt sich einfach um eine Tatsache.“

„Ich verstehe“, sagte ich. „Um die Tatsache, daß Sie jetzt das Geld haben.“

Seine Züge erhellten sich. Meine schnelle Auffassung schien ihm zu gefallen.

„Aber wir umgehen die eigentlich­e Frage,“fuhr ich fort, „die des Rechtes.“

„Ach!“bemerkte er und zog den Mund schief. „Ich sehe, Sie glauben noch an so etwas wie Recht und Unrecht.“

„Glauben Sie denn nicht daran? Gar nicht? “fragte ich.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany