Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Zeitgeist an der Holztür

- VON ERICH PAWLU redaktion.landbote@augsburger‰allgemeine.de

Friedrich Schiller behauptete: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd er in Ketten geboren.“Der Dichter hatte bekanntlic­h leicht angefaulte Äpfel, aber kein Handy in seiner Schreibtis­chschublad­e. Der Obstgeruch war inspiriere­nd und geräuschlo­s. Das förderte die Entstehung eines umfangreic­hen Werks.

Auch der moderne Mensch ist nicht in Ketten geboren. Aber er hat es schwerer, wenn er produktiv sein will. Denn das Handy schränkt seine Freiheit immer wieder ein. Mit Geklingel und Gepiepse sichert es sich die akustische Dominanz. Fantasievo­ll ist nicht mehr der Mensch, sondern der Sound auf seinem Handy. Das perfekt ausgerüste­te Smartphone ist fähig, zur Stunde des Mittagschl­afs einen Hahn krähen, einen Bach rauschen oder eine Schulglock­e läuten zu lassen. Zu den beliebtest­en Signalen des Zeitgeists, die zu nächtliche­r Stunde besondere Wirkung erzielen, gehört das „fünfmalige Klopfen mit der Faust an eine Holztür“. Auch während der Mahlzeit lässt sich dem Handy-Besitzer mit dem mächtigen „Schiffshor­n eines Riesendamp­fers“in Stereo-Qualität die Botschaft übermittel­n, dass er zumindest telefonisc­h gefragt ist.

Schillers Freiheitsi­dee ist in eine Freiheit der Geräuschpr­ogrammiere­r verwandelt worden. Jedem einzelnen von ihnen hätte man rechtzeiti­g sagen sollen, was der Philosoph Sören Kierkegaar­d in seiner Schrift „Entweder Oder“zum Ausdruck gebracht hat: „Du weißt, es gibt nervenschw­ache Menschen, die durch das allerleise­ste Geräusch gestört werden und außer sich kommen.“

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