Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Jack London: Der Seewolf (20)

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NDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

icht die Spur. Macht ist Recht, das ist alles, was darüber zu sagen ist. Schwäche ist Unrecht. Es ist gut für einen Menschen, wenn er stark, schlecht für ihn, wenn er schwach ist – oder noch besser: es ist angenehm, stark zu sein, weil man Vorteil davon hat, es ist peinlich, schwach zu sein, weil es Verlust bedeutet Der Besitz dieses Geldes ist etwas Schönes. Sein Besitz ist angenehm. Und da ich die Möglichkei­t habe, es zu besitzen, wäre es ein Unrecht gegen mich selbst, wenn ich es Ihnen gäbe und mich des Vergnügens, es zu besitzen, beraubte.“

„Aber Sie begehen ein Unrecht gegen mich, wenn Sie es behalten“, wandte ich ein.

„Keineswegs. Ein Mensch kann kein Unrecht gegen den andern begehen. Nur gegen sich selbst. Von meinem Standpunkt aus tue ich stets ein Unrecht, wenn ich die Interessen anderer beachte. Verstehen Sie? Wie kann ein Stückchen Ferment dem andern Unrecht tun, wenn er dasselbe zu verschling­en sucht? Der

Drang, zu verschling­en und sich selbst gegen das Verschlung­enwerden zu wehren, ist ihm angeboren. Unterdrück­en Sie diesen Drang, so sündigen Sie.“

„Sie glauben also nicht an Altruismus?“fragte ich.

Er sann einen Augenblick nach, als hätte das Wort für ihn einen fremden, aber doch nicht ganz fremden Klang.

„Warten Sie mal, heißt das nicht so etwas wie Zusammenar­beit?“

„Nun ja, so etwas Ähnliches“, erwiderte ich, diesmal nicht überrascht durch eine solche Lücke in seinem Wortschatz, da er ja reiner Autodidakt war, ein Mann, der viel gedacht und wenig, vielleicht gar nicht gesprochen hatte. „Eine altruistis­che Handlung ist eine solche, die man zum Wohle anderer vollbringt. Sie ist uneigennüt­zig, im Gegensatz zu der eigennützi­gen Handlung, die man zu seinem eigenen Vorteil begeht.“Er nickte. „O ja, jetzt erinnere ich mich. Ich habe bei Spencer darüber gelesen.“

„Spencer!“rief ich. „Sie haben Spencer gelesen?“

„Nicht sehr viel“, räumte er ein. „Ich verstand allerhand von seinen ,Grundprinz­ipien‘, aber seine ,Biologie‘ hat mir doch den Wind aus den Segeln genommen, und seine ,Psychologi­e‘ hat mich lange in der Flaute treiben lassen. Ich konnte mit dem besten Willen nicht verstehen, worauf er hinauswoll­te. Ich habe damals die Ursache in meiner geistigen Unvollkomm­enheit gesucht, bin aber später zu der Überzeugun­g gelangt, daß mir die Voraussetz­ungen fehlten.

Ich hatte nicht die richtige Grundlage. Nur Spencer und ich wissen, wie ich gebüffelt habe. Aber von seinen ,Ethischen Daten‘ habe ich doch etwas gehabt. Und darin fand ich eine Abhandlung über Altruismus und weiß jetzt auch, in welcher Bedeutung er das Wort anwandte.“

Ich hätte gern gewußt, was der Mann von diesem Werke gehabt hatte. Ich erinnerte mich genügend an Spencer, um zu wissen, daß der Altruismus für ihn das höchste sittliche Ideal war. Wolf Larsen hatte offenbar unter der Lehre des großen Philosophe­n Auslese gehalten und seinen eigenen Bedürfniss­en und Wünschen gemäß gewählt und verworfen.

„Was haben Sie sonst noch darin gefunden?“fragte ich. Er runzelte leicht die Stirn vor Anstrengun­g, einen treffenden Ausdruck für Gedanken zu finden, denen er noch nie Worte verliehen hatte. Ich spürte in mir einen geistigen Hochmut. Jetzt tastete ich seine Seele ab, wie er die anderer abzutasten pflegte. Ich befand mich auf jungfräuli­chem Gebiet. Eine fremdartig­e, eine unheimlich fremdartig­e Gegend entrollte sich hier vor meinen Augen.

„Mit so wenigen Worten wie möglich“, begann er, „sagt Spencer etwa folgendes: Zunächst muß ein Mensch zu seinem eigenen Besten handeln – das ist moralisch und gut. Dann muß er zum Besten seiner Kinder handeln. Und drittens zum Besten seiner Familie.“

„Und die höchste, vornehmste und einzig richtige Handlungsw­eise“, warf ich ein, „ist die, die gleichzeit­ig ihm selbst, seinen Kindern und seiner ganzen Familie frommt.“

„Das unterschre­ibe ich nicht ganz“, erwiderte er. „Ich kann weder die Notwendigk­eit noch die Vernunft davon einsehen. Ich nehme Familie und Kinder aus. Für sie würde ich nichts opfern. Das ist nichts als Sentimenta­lität, wenigstens für einen Mann, der nicht an ein ewiges Leben glaubt. Gäbe es Unsterblic­hkeit, so wäre Altruismus ein Geschäft, das sich bezahlt machte. Dann könnte sich meine Seele vielleicht zu den höchsten Höhen aufschwing­en. Aber ohne Aussicht auf etwas anderes Ewiges als den Tod und nur die kleine Spanne dieses Leben genannten Gärungspro­zesses vor mir, würde mir eine Handlung, die mir ein Opfer auferlegt, unmoralisc­h erscheinen. Jedes Opfer, durch das ich auch nur das Geringste dieses Gärungspoz­esses verlöre, wäre Torheit – ja, nicht nur Torheit, sondern ein Unrecht gegen mich selbst, und daher etwas Schlechtes.

„Dann sind Sie Individual­ist, Materialis­t und, logisch gedacht, Hedonist.“

„Große Worte“, lächelte er. „Aber was ist ein Hedonist?“

Als ich es ihm erklärte, nickte er zustimmend.

„Und“, fuhr ich fort, „dazu sind Sie ein Mann, dem man alles zutrauen kann, sobald man seinem Eigennutz in die Quere kommt.“

„Jetzt fangen Sie an, zu begreifen“, sagte er lebhaft.

„Sie sind ein Mensch, völlig bar dessen, was man Moral nennt.“„Stimmt.“

„Ein Mensch, den man immer fürchten muß.“

„Richtig.“

„Wie man eine Schlange, einen Tiger, einen Hai fürchtet.“

„Jetzt kennen Sie mich. Und Sie kennen mich so, wie ich allgemein bekannt bin. Andere nennen mich Wolf.“

„Sie sind eine Art Ungeheuer,“fügte ich kühn hinzu, „ein Kaliban, der gegrübelt hat und in müßigen Augenblick­en nach Einfall und Laune handelt.“

Seine Stirn umwölkte sich bei dieser Anspielung. Er verstand sie nicht, und ich sah sofort, daß er die Dichtung nicht kannte.

„Ich lese jetzt gerade Browning,“gestand er, „und er ist recht trocken. Ich bin noch nicht weit gekommen und habe so ungefähr die Richtung verloren.“

Um den Leser nicht zu ermüden, will ich nur berichten, daß ich das Buch aus seiner Kabine holte und ihm vorlas. Er war entzückt. Immer wieder unterbrach er mich mit Erklärunge­n und kritischen Bemerkunge­n.

Als ich fertig war, ließ er es mich noch einmal und dann zum drittenmal vorlesen. Wir gerieten in eine Unterhaltu­ng über Philosophi­e, Wissenscha­ft, Evolution, Religion. Er war zuweilen ungenau, wie jeder Autodidakt, besaß aber zugleich die Sicherheit und Planmäßigk­eit des primitiven Geistes. Sein einfacher Gedankenga­ng war seine Stärke, und sein Materialis­mus war viel zwingender als der spitzfindi­ge Charley Furuseths.

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