Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die bitterste Stunde des Djokers

Nach der Niederlage im Finale der US Open war Novak Djokovic „froh, dass es vorbei ist“. Medwedew als kühler Spielverde­rber

- VON JÖRG ALLMEROTH

New York Die bitterste Niederlage seiner Karriere lag eine gute Stunde zurück, da sagte Novak Djokovic den einen Satz, der eigentlich alles beschrieb an diesem schwarzen Grand Slam-Tag für ihn. Den fahrigen, nervösen, zittrigen Auftritt im Endspiel der US Open, das heftige Scheitern in drei glatten Sätzen (4:6, 4:6, 4:6) gegen seinen glänzenden russischen Herausford­erer Daniil Medwedew, die eigenen Tränen schon auf den letzten Metern dieser denkwürdig­en Partie. „Ich bin nur noch froh, dass es vorbei ist“, sagte Djokovic, „ich war heute gar nicht richtig da.“

Im emotionale­n Ausnahmezu­stand, in extremen Drucksitua­tionen hatte er sich oft in dieser Saison befunden, ob bei den Australian Open in Melbourne, den French Open in Paris oder auch in Wimbledon – doch die Last, sein magisches Traumziel zu erreichen, den Gewinn aller vier Majors in einer Saison, hatte ihn zuletzt doch noch überwältig­t. 27 Siegen, mehr oder weniger hart erstritten gegen Teenager und Altvordere, gegen etablierte Stars und ehrgeizige Newcomer, folgte der jähe Absturz in die New Yorker Depression. Das machtvolle Schlusswor­t dieses Grand SlamJahrga­ngs hatte nicht der erfolgreic­hste Spieler des letzten Jahrzehnts, der vermeintli­ch unschlagba­re, auf einmal aber sehr angreifbar­e Djoker, sondern Medwedew, einer der jungen Wilden im Wanderzirk­us.

Alles war anders an einem New Yorker Tennisaben­d, an dem alles so sein sollte wie immer in diesem Djokovic, sonst eher der geduldete Frontmann der Tenniswelt, war zwar der gefeierte Liebling der Massen – aber auch der große, schwer angefasste, bitter enttäuscht­e Verlierer. Und Medwedew, der leicht kauzige Schach-Großmeiste­r des Tennis, war der im Match ausgepfiff­ene, zuletzt sogar immer wieder von Schmähunge­n überschütt­ete Buhmann – und zugleich der triumphale Pokalheld. Der Mann, der einen sporthisto­rischen Moment mit kühler Eleganz und strategisc­her Weitsicht zerstörte. Der Mann, der Djokovics heiß ersehntes Rendezvous mit der Ewigkeit zerstörte und für den letzten Sensations­plot bei einem Turnier der extremen Kapriolen und Kuriosität­en sorgte. „Ich weiß, dass ich der große Spielverde­rber bin heute“, sagte Medwedew im schließlic­h doch noch artigen Applaus der Fans, „Novak ist und bleibt aber der größte Tennisspie­ler aller Zeiten.“

Vor 52 Jahren hatte Rod Laver, der legendäre Australier, zuletzt das Kunststück geschafft, einen Grand Slam-Durchmarsc­h von Melbourne bis New York in den Geschichts­büchern festzuschr­eiben. Laver, inJahr. zwischen 83 Jahre alt, saß an diesem Abend auf der Ehrentribü­ne, er stand auch bereit, seinem Nachfolger Djokovic in der Arena den Pokal auszuhändi­gen und die Gratulatio­nskolonne anzuführen.

Doch als der letzte Punkt dieser gegen alle Erwartung verlaufene­n Partie gespielt war, verschwand Laver diskret in der Präsidente­nloge des US-Tennisverb­ands – die Glückwünsc­he an Medwedew übermittel­te eine andere Größe der Vergangenh­eit, der Amerikaner Stan Smith.

Dem Triumph der Qualifikan­tin

Emma Raducanu in der Damenkonku­rrenz folgte nicht ein Schritt in die Tennis-Normalität, der allseits vorhergesa­gte Sieg Djokovics. Denn der 20-malige Grand Slam-Champion war von der ersten bis zur letzten Minute dieses einseitige­n Duells nicht er selbst, der stahlharte Wettkämpfe­r, der Mentalität­sweltmeist­er, der Entfesselu­ngskünstle­r aus der Not. Djokovic hatte keine Antworten, als es brenzlig wurde. Er wirkte, wie Boris Becker befand, „so planlos wie nie zuvor“in einem so bedeutende­n Match. Kein einziger der sogenannte­n Big Points ging an den bis dahin dominieren­den Grand Slam-Profi des Jahres 2021, den gefürchtet­en Allesgewin­ner. Später sagte Djokovic, die Zuneigung,

„die Liebe der Fans, die meine Seele berührt hat“, werde er nie vergessen, das bedeute ihm so viel wie der Titelgewin­n. Aber das Mitleid in dieser Nacht hätte er wahrschein­lich nur zu gern gegen die frühere Distanzier­theit der raubeinige­n Fans eingetausc­ht.

Djokovic war sein ganzes Tennislebe­n lang der Jäger. Er mischte sich als erster Spieler in den Zweikampf der Titanen Roger Federer und Rafael Nadal ein, er beendete dann auch die alleinige Herrschaft des Schweizer Maestros und des spanischen Matadors. Er rückte ihnen bei den Grand Slams immer dichter in den Nacken, er wurde zum stärksten Akteur bei den Majors, mit dem Sieg in Wimbledon stellte er sich auch formal auf eine Stufe mit Federer

und Nadal – die großen drei hatten nun jeweils 20 Grand Slam-Pokale eingesamme­lt. Djokovics größte Beute wäre allerdings der Kalender-Grand Slam gewesen, jener Coup, der noch keinem Spieler in der modernen Tennisära gelungen war. Er wäre Djokovics eigentlich­es Vermächtni­s gewesen, sein Alleinstel­lungsmerkm­al gegen alle Supermänne­r der vergangene­n fünf Jahrzehnte. Als Djokovic in der letzten Spielpause, beim Stand von 4:5 im dritten Satz, tränenaufg­elöst sein Gesicht unter einem Handtuch verbarg, hatte er sich irgendwie auch wieder in einen Menschen aus Fleisch und Blut verwandelt. Die Technokrat­ie seiner Erfolge, das oft Mechanisch­e im Auftritt, die roboterhaf­te Anmutung – es war alles weg, verschwund­en im sich abzeichnen­den Scheitern so dicht vor dem Zielstrich. In vier Monaten beginnt das neue Grand Slam-Jahr, im fernen Australien, dem Lieblingss­chauplatz Djokovics. Dort hat er bereits neun Mal gewonnen, der zehnte Triumph könnte ihm die Spitzenpos­ition in der ewigen Grand Slam-Hitliste einbringen.

Aber ob Melbourne noch einmal der Auftakt einer vergleichb­aren Siegesseri­e wird, ob sich im Jahr 2022 aufs Neue die Chance zum Titel-Durchmarsc­h bietet, ist eher fraglich. Eine Chance wie am 12. September 2021 kommt wohl nur einmal im Leben, auch für einen wie Novak Djokovic.

Der große Champion hatte keine Antworten

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Foto: John Minchillo, dpa Verlierer Novak Djokovic kann die Tränen nicht zurückhalt­en. Der Serbe verpasste mit der Niederlage den Gewinn des Grand Slam, der vier großen Tennisturn­iere des Jahres.
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Daniil Medwedew

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