Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Schöne heile Welt?
Zu wenige Kitaplätze, Wohnraum und Teilzeitstellen, beklagt das Ehepaar
Klimawandel, Pandemien, Kriege, Digitalisierung – angesichts vieler künftiger Entwicklungen und Krisen fragen sich Paare und Eltern: Wie soll das noch alles gehen? Wie können wir unseren Lebensstandard sichern? Welche Probleme sie in den kommenden Jahren sehen, welche Erwartungen sie an die Politik haben und was die Parteien in ihren Wahlprogrammen Familien versprechen
Julian und Megan führen das Leben einer Mittelschichtsfamilie wie aus dem Bilderbuch. Beide haben eine gute Ausbildung, ein solides Einkommen, ein eigenes Haus mit kleinem Garten in einem Vorort von Tübingen. Papa Julian arbeitet als Laborarzt in einem Krankenhaus, Mama Megan kümmert sich um den dreijährigen Sohn und jobbt nebenbei im Mütter- und Familienzentrum im Nachbarort. Und Samuel hat heute seinen ersten Tag zur Eingewöhnung im Waldkindergarten.
Die junge Familie lebt in einem neu gebauten schmalen Reihenmittelhaus in Entringen, einem Ortsteil der baden-württembergischen Gemeinde Ammerbuch. Es ist ein richtiges Zuhause. Gemütlich, geschmackvoll eingerichtet, zum Wohlfühlen. In ihrem Wohnzimmer zeugen unzählige Erinnerungsstücke von vielen glücklichen Jahren, die die drei schon miteinander verbracht haben. Eine Fotocollage von gemeinsamen Urlauben, Babybilder auf der hölzernen Kommode, die ersten selbstgemalten Bilder von Sam. Kennengelernt haben sich Julian und Megan auf einer Reise in Spanien. Sie lebte in Großbritannien, er in Deutschland. Über Jahre hinweg führten sie eine Fernbeziehung, heirateten und zogen erst nach der Hochzeit in Deutschland zusammen. Für Megan ein echter Kulturschock, wie sie heute erzählt. Doch zurück in die alte Heimat möchte die junge Frau trotzdem nicht mehr.
Ihr Zuhause, ihre Geschichte, die Liebe zueinander – es ist ein Leben, wie es sich viele Menschen, junge Paare und Familien in Deutschland erträumen. Doch auch für Julian und Megan stand nicht immer fest, dass sich dieser Traum für sie erfüllen wird.
„Das darf man wirklich nicht falsch verstehen“, sagt die 32-jährige Megan, die nun schon seit über fünf Jahren in Deutschland lebt und auch die Sprache sehr gut spricht. „Ich liebe meinen Sohn und ich liebe es,
Mutter zu sein. Aber als wir noch zu zweit waren, haben wir uns schon auch gefragt, ob wir überhaupt Kinder haben wollen“, erzählt sie nachdenklich. „Das war für uns ein Thema, über das wir viel gesprochen haben. Wollen wir Kinder bekommen, wenn es so viele Probleme auf der Welt gibt? Wenn so viele schlimme Entwicklungen vorhergesagt werden und wir uns Sorgen machen, wie das in der Zukunft alles gehen soll?“
Es sind Bedenken, ja vielleicht sogar Ängste, wie sie viele Paare, Eltern und Familien in Deutschland mit Julian und Megan teilen. Untersuchungen dazu gibt es bundesweit praktisch jährlich. Forschungsinstitute, Ministerien, Landesämter und Versicherungen befragen Frauen und Männer, Mütter und Väter, wie gelassen oder beunruhigt sie in die Zukunft schauen. Was treibt sie um? Was wünschen sie sich für die kommenden Jahre und Jahrzehnte? Welche Erwartungen haben sie an ihren Wohlstand? Fragen, die besonders vor der Bundestagswahl noch einmal an Bedeutung gewinnen – wenn Paare und Eltern abwägen, wer ihre Interessen am besten vertritt und wie sehr die Parteien die Sorgen der Familien in Deutschland ernst nehmen.
Im Leben von Julian und Megan bleibt an manchen Tagen nicht einmal eine Minute, um sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen. Zu sehr nimmt sie der Alltag in Beschlag. An diesem Vormittag zum Beispiel ist es wie verhext. Der Wecker am Morgen hat nicht geklingelt, hektisch sind die Eltern zum Kindergarten geeilt, damit Sam nicht zu spät zur Eingewöhnung kommt. Der Dreijährige ist am Nachmittag immer noch ganz aufgeregt. Er schlägt auf dem Sofa Purzelbäume, jagt mit einer Käsestange in der Hand um den Esstisch und kreischt und singt und lacht und tobt. Erst als seine Eltern im Fernsehen eine Folge „Paw Patrol“einschalten, kommt Sam zur Ruhe und schaut gebannt der Kinderserie zu.
Nur in solchen Momenten haben Julian und Megan Zeit für sich – Zeit, um selbst runter zu kommen und darüber nachzudenken, was ihnen Sorgen macht und was sie sich von der Zukunft erwarten. Was sichert ihren Lebensstandard? Wie wird sich ihr Leben angesichts von Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel und Pandemie verändern? Gemeinsam überlegen die beiden, diskutieren, wägen ab, erinnern sich an die Probleme, von denen Freunde und Angehörige erzählt haben – und sammeln eine lange Liste an Themen, die für Familien in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zum Problem werden könnten.
Zu wenige Kinderbetreuungsplätze und hohe Kita-Kosten, zu wenige Erzieherinnen, bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper, die Arbeitswelt zunehmend digitalisierter und automatisierter, zählt Julian auf. Der Wiedereinstieg für Mütter in die Arbeitswelt sei nach wie vor sehr schwierig, es fehle an flexiblen Arbeitszeitmodellen und in vielen Branchen an Möglichkeiten, Teilzeit zu arbeiten, ergänzt Megan. Der Mindestlohn sollte steigen, fordert das Ehepaar. Eine Erhöhung des Renteneinstiegsalters auf 70 Jahre sieht es kritisch. „Es geht ja gar nicht darum, dass man nicht so lange arbeiten will“, sagt Julian. „Sondern eher um die Frage, ob man so lange arbeiten kann und ob die Lebenserwartung das hergibt.“
Auch die globalen Krisen – Klimawandel, Kriege, Pandemien – bereiten Julian und
Megan Sorgen. „Das Wetter ist wirklich unberechenbar geworden“, erzählt Megan. „Bei uns gab es dieses Jahr im Sommer Waldbrandgefahr und nicht weit von hier im Frühjahr sogar einen Erdrutsch.“Als Mediziner beschäftigt Julian vor allem auch die Gefahr weiterer Pandemien in der Zukunft. „Wir hatten Sars, Mers, Schweinegrippe und jetzt Corona. Die Vorstellung, dass das immer schlimmer wird, ist wirklich gruselig und furchtbar.“
Julian und Megan erzählen von ihren ganz persönlichen Problemen und Sorgen, die sie als Eltern aktuell beschäftigen. Doch gleichzeitig spricht das Paar aus Baden-Württemberg stellvertretend für die rund 11,6 Millionen Familien in der Bundesrepublik. Mit deren aktueller Situation beschäftigt sich auch der im Januar 2021 erschienene „Neunte Familienbericht“der Bundesregierung mit dem Titel „Eltern sein in Deutschland“. Dafür wurden Väter und Mütter befragt, wie sie leben wollen, was sie sich für ihre Kinder wünschen, wovon sie sich unter Druck gesetzt fühlen und wo und