Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Betreff: Grundsätzliches
„Das waren Eingriffe des Staates, die bislang in der BRD als unvorstellbar galten“
Wegen Covid-19 haben Bund und Länder die Grundrechte massiv eingeschränkt. Lockdown und Ausgangssperren waren für viele, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, ein nie erlebter Freiheitsentzug. Gegen die Corona-Regeln hat es in Karlsruhe Beschwerden über Beschwerden gegeben. Nur bleibt die Pandemie Teil unserer neuen Normalität. Umso mehr stellt sich die Frage: Was darf der Staat? Was sollte er lassen?
Still ist es hier, in der letzten Instanz. Sehr still für den Moment. Der Bundesadler, groß und erhaben, dort an der holzgetäfelten Wand, schweigt gravitätisch, blickt über Karlsruhe, denkt vielleicht an die alten Zeiten, als deutsche Könige noch römische Kaiser waren, als die Macht noch von Gott und nicht vom Volk kam, als einer allein die Entscheidungen im Lande traf und der Wille des Herrschers der Wille des Staates war. Und es diesen hoch gelegenen Sitzungssaal noch nicht brauchte, um in der lärmenden, vielstimmigen, streitwilligen, von einer Pandemie erschöpften und vielleicht etwas in Schieflage geratenen Bundesrepublik die Dinge zu klären. Vielleicht wundert sich das alte Wappentier auch nur über sein Foto (1822 Likes) im Netz. Auch das Bundesverfassungsgericht sendet jetzt auf Instagram.
Es bleibt still dort an diesem Vormittag. Was nicht heißt, dass nicht gearbeitet würde. Im Gegenteil. Diese Ruhe ist Konzentration. Der Teppich schluckt die Schritte wie in einer Bibliothek. Verfassungsbeschwerden, Eilanträge werden in diesem lichtdurchfluteten Glasbau rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche angenommen. Und besonders viele, es waren mehr als 1700, kamen zuletzt in Sachen Corona. Noch nie in der jüngsten Geschichte wurden so viele Grundrechte eingeschränkt. Lange gab es nicht so viel Streit über das, was der Staat darf und was nicht.
Es gibt also vieles zu klären. Und wie der Adler im Saal müssen die Richter, die hier – in ihren scharlachroten Roben aus Trevira und Satin – ihre Urteile verkünden, dabei ein bisschen über den Dingen schweben. Unabhängig bleiben vom lauten Berlin. Mit ihren Entscheidungen – wie zuletzt in Sachen Klimaschutz – der Bundesregierung, dem Bundestag oder dem Bundesrat die Richtung weisen bei deren Mühen, die Zukunft dieses Landes mit Gesetzen und Vor
zu formen. Die wiederum – sehr konkret – Einfluss darauf haben, wie wir leben, zuletzt leben mussten. Es vielleicht so gar nicht wollten und wollen. Weil die Pandemie aber bleibt, die Zahlen steigen, die Impfquote noch lange nicht dort ist, wo sie sein sollte, wirft das noch immer ganz viele alltagspraktische, aber auch perspektivische Fragen auf. Wo sollte sich der Staat einmischen, wo nicht? Wo wird – auch jenseits von Corona – etwa überreguliert? Während in der jetzigen Pandemiephase diskutiert wird, ob nicht alle Unternehmen ihre Beschäftigten fragen dürfen sollten, ob diese geimpft sind oder nicht, ob 2G oder 3G angemessen ist, fanden Anfang des Jahres viele Deutsche ganz andere Anlässe, sich zu beschweren. Es ging zum Beispiel schlicht darum, wie lange man im Frühjahrslockdown auf Fehmarn im Wohnwagen campen durfte. Es ging um alles mögliche, natürlich um geschlossene Geschäfte, geschlossene Schulen. Es ging und geht ganz besonders oft um die Vorschriften des vierten Bevölkerungsschutzgesetzes vom April, besser bekannt als „Bundesnotbremse“.
In dieser Sache haben auch 80 Bundestagsabgeordnete der FDP Verfassungsbeschwerde eingereicht. Die Bundesregierung – die Freien Demokraten dürften inzwischen wieder froh sein, ihr nicht beigetreten zu sein – hatte im April mit der Novelle des Infektionsschutzgesetzes automatische Ausgangssperren eingeführt und diese an der Inzidenz, also der Zahl der an Corona Erkrankten pro 100000 Einwohner, festgemacht. Die Liberalen hatten und haben dagegen Bedenken, auch wenn es derzeit keine Ausgangssperren mehr gibt und nicht mehr die Inzidenz, sondern die Belegung der Krankenhäuser relevant für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ist.
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Stephan Thomae pendelt in diesen Wahlkampftagen zwischen seinem Wahlkreis im Oberallgäu und Berlin. Nun sitzt der Familienvater aus Kempten in einem Biergarten und erklärt, warum die Ausgangssperren und die Inzidenz nur „Angriffspunkte“waren, die Beschwerde aber nach wie vor sehr relevant ist. Der Kellner, der seine Maske doch ein wenig staatsgefährdend unter der Nase hängen hat, stellt ihm dazu ein Spezi hin.
Die Fragen, die offenbleiben, sagt Thomae, sind: „Welche Eingriffsbefugnisse hat die Exekutive zur Gefahrenabwehr? Inwieweit kann zum Schutz eines Grundrechts, wie das auf Gesundheit, in andere Grundrechte – auf Bildung, auf Eigentum, die allgemeine Handlungs- oder Reisefreiheit – eingegriffen werden? Inwieweit ist das Verhältnis der Grundrechte berührt?“Darum gehe es im großen Bogen. „Die nächste Krise ist vielleicht keine Pandemie. Die nächste Krise ist irgendetwas anderes, irgendein anderes Ereignis. Deshalb bedarf es einmal der Klärung: Wie weit darf die Exekutive zur Eindämmung gewisser Krisen in die Grundrechte eingreifen? Das ist eine ganz grundsätzliche Frage. Von daher hat die sich alles andere als erledigt.“
Möglicherweise schon diesen Oktober will der Erste Senat des Bundesverfassungsschriften gerichts über mehrere sogenannte „Hauptsacheverfahren“– zu denen auch die Beschwerde der FDP gehört – entscheiden. Ausgang: offen.
Insgesamt waren in der 70-jährigen Geschichte des Hauses nur 2,3 Prozent aller Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe erfolgreich. So transparent, so durchlässig das Gebäude von Architekt Paul Baumgarten damals in „sachlicher Würde“gehalten wurde – ein Selbstläufer ist eine Verfassungsbeschwerde eher nicht. Die Hüter des Grundgesetzes sind in dem Ensemble im Schlossbezirk im sogenannten „Richterring“untergebracht. Dieser Teil steht auf Säulen, was deren Unabhängigkeit und Zurückgezogenheit symbolisieren soll. Wichtiges historisches Detail: Bis zu der berühmten, 1952 von Gerhard Leibholz verfassten „Statusdenkschrift“, quasi einer „Selbstautorisierung“, war das Bundesverfassungsgericht noch dem Bundesjustizministerium angegliedert und erlangte erst danach den Status als (fünftes) oberstes Verfassungsorgan. Der damalige Bundeskanzler Konrad
Adenauer wird später seinen berühmten Satz sagen: „Dat ham wir uns so nich vorjestellt.“
Das könnte heute auch Hans-Jürgen Papier sagen. Allerdings meinte er damit sicher nicht die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts, dessen Präsident er von 2002 bis 2010 war. Der 78-Jährige meint viel mehr die staatlichen Versäumnisse der jüngeren Vergangenheit, zu denen er das eine oder andere anzumerken hat.
Wer fragt, wie wir künftig leben wollen, kann im Gespräch mit dem Staatsrechtswissenschaftler manche Anregung bekommen, wie aus den jüngst sichtbar gewordenen Defiziten eine freiheitlich verfasste Zukunft dieses Landes werden könnte. Es ist zwar ein Blick zurück, aber er richtet sich nach vorn. Papier bilanziert zunächst: „Das waren Eingriffe des Staates, die – natürlich nicht aus reiner Willkür, sondern um die Gesundheit der Menschen zu schützen – bislang in der Bundesrepublik als unvorstellbar galten.“Vom reglementierten Zusammenleben in der eigenen Wohnung
oder im Altenheim, über das für viele geltende Berufsausübungsverbot, bis zur Schließung von Betrieben, der wirtschaftlichen Vernichtung von Existenzen. Papier will das Regierungshandeln, das „Verbotsregiment“an sich nicht pauschal infrage stellen oder verdammen, aber er sagt: „Es wurde zuweilen nicht bedacht, dass Freiheitsbeschränkungen auch in Zeiten einer pandemischen Notlage staatlicherseits stets begründungspflichtig sind, dass sie widerspruchsfrei erfolgen und durchsetzbar sein müssen.“Etwa bei den Beherbergungsverboten und der Sperrstundenregelung, bei denen doch gar nicht klar gewesen sei, ob sie das Infektionsgeschehen reduzierten. „Man hat Vorschriften erlassen, bei denen der Nachweis ihrer Erforderlichkeit, aber auch ihrer Verhältnismäßigkeit – und das sind rechtsstaatliche Mindestanforderungen an Grundrechtsbeschränkungen – nicht erbracht werden konnte.“
Papier hinterfragt aber nicht nur die Verbote, sondern auch die Art, wie sie institutionell zustande kamen: „In unserer parlamentarischen Demokratie ist es das vom Volk gewählte Parlament, der Bundestag, der die Voraussetzungen dafür zu regeln hat. Das ist nicht geschehen. Viel zu lange wurden die gesamten Verbote über behördliche Verordnungen geregelt.“Die Legislative habe sich quasi eineinhalb Jahre, bis zur Verabschiedung der umstrittenen „Bundesnotbremse“im April 2021, weitgehend rausgehalten. Bis dahin habe ein Gremium, jene viel kritisierten Schaltkonferenzen der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit der Bundeskanzlerin, die Angelegenheiten geregelt, das es in der Verfassung gar nicht gebe. Papier sagt: „Das war von vornherein der falsche Weg. Das Parlament hätte das Heft in die Hand nehmen müssen. Nicht jede Einzelheit, nicht jede Sperrstunde, aber die grundlegenden Entscheidungen über die Grenzen der Freiheitsrechte hätten dort präziser formuliert werden müssen. Lange Zeit hat man mit einer generalklauselartigen Ermächtigung im Infektionsschutzgesetz gearbeitet, dass die Länderbehörden im Falle einer Infektionslage die ,notwendigen‘
Maßnahmen treffen dürfen. ,Notwendig‘ ist ein sehr weiter Begriff.“Die Menschen fragten sich doch zu Recht, wozu wählen wir, wenn diese Volksvertretung in der „bisher kritischsten Zeit in diesem Land abtaucht“.
Das Argument des Zeitdrucks lässt Papier für den Anfang der Pandemie gelten, aber spätestens nach mehreren Wochen verfange es nicht mehr. „Man war verfassungsrechtlich nicht auf eine solche pandemische Notlage vorbereitet. Das kann man niemandem zum Vorwurf machen, aber man hat danach nicht rechtzeitig reagiert.“Auch im Hinblick auf Unternehmen und Selbstständige, bemängelt Papier, hat man zwar von vielen ein Sonderopfer zum Schutz der allgemeinen Gesundheit verlangt – Schließung, Berufsverbot oder bei den Künstlern Auftrittsverbot –, dieses hätte dann aber wegen der Eigentumsgarantie wie auch der Berufsfreiheit eines – gesetzlich geregelten – Ausgleichs bedurft. „Das hat man nicht getan, man hat zwar Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt, aber eben ohne Rechtsanspruch.“Papier betont: „Es geht mir nicht um eine pauschale Kritik. Der Staat musste handeln. Aber es geht mir darum, dass man den Wert der Freiheit, die Bedeutung der Freiheitlichkeit des Einzelnen und der Gesellschaft aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht immer hinreichend in der Abwägung berücksichtigt hat.“Den Konkurrenzkampf zwischen Politikern, etwa zwischen Laschet und Söder um die Kanzlerkandidatur der Union, hat Papier, der CSU-Mitglied ist, für die Krisenbewältigung nicht unbedingt als förderlich erachtet.
Im Foyer von Karlsruhe, in der ernstgesichtigen Ahnengalerie mit den Richterinnen und Richtern, hängt auch das Bild Papiers. Man sieht den aus einer Berliner Bäckermeisterfamilie stammenden Mann auf dem Höhepunkt seiner juristischen Laufbahn. Als „Deutschlands höchster Richter a.
D.“, wie sein Verlag ihn bewirbt, möchte Papier keine Prognose dazu abgeben, wie seine Nachfolger in Karlsruhe etwa über die Verfassungsbeschwerde der FDP befinden werden. Er meint allerdings schon, dass das Gericht sich bald zu den Grundsatzfragen äußern sollte. Denn, so resümiert er, „für künftige kritische Lagen dieser Art müssen wir rechtsstaatlich besser gerüstet sein“.
Papier will darüber hinaus auf ganz ande- re Defizite hinweisen, wenn er nun sein neues Buch „Freiheit in Gefahr“veröffentlicht. Es geht dabei nicht nur um zu viel von zu wenig begründetem Handeln des Staates. Er, der nach wie vor an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität lehrt, macht perspektivisch eine ganze Reihe von Punkten auf, die über die Pandemie hinausweisen und zugleich den Stillstand beschreiben. So wurde der in seinem mannigfaltigen Stocken viel geschilderte Ausbau des Glasfasernetzes bereits 1981 von der sozialliberalen Regierung Helmut Schmidts (SPD) beschlossen. Vier Jahrzehnte später ist schnelles Internet in Deutschland immer noch Anspruch, aber viel zu selten Wirklichkeit. Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler im Lockdown wissen genau, was gemeint ist.
Ein zweites von seinen vielen Beispielen: In einer Studie der HHL Leipzig Graduate School of Management wurde der bürokratische Aufwand berechnet, den es braucht, um in Deutschland ein Start-up-Unternehmen zu gründen. Während das in Kanada in eineinhalb Tagen klappt, in Frankreich in vier, brauchen Gründer in Deutschland zehneinhalb Tage. Papier kommentiert das so: „Deutschland ist hier oder auch bei der Digitalisierung in einem Rückstand, der sich in der Pandemie besonders gezeigt hat und sich nicht so schnell aufholen lässt.“Letztlich, und das ist es, was der Richter der scheidenden und nun neu zu wählenden Bundesregierung zum Geleit sagt, meint er: „Ich erwarte von den Gewählten in Regierung und Parlament eine größere Bereitschaft, politische Führung wahrzunehmen. Und es geht dabei vor allem auch um Nachhaltigkeit, die meiner Meinung nach in die Verfassung aufgenommen werden sollte.“Viele Probleme seien durch die Pandemie verdrängt worden. Sicher, es habe zuletzt viele Krisen gegeben. Allerdings lässt Papier das als Argument nicht gelten. Denn: „Wir hatten immer schon schwere Krisen. Nach dem Krieg musste das Gemeinwesen einschließlich der Sozialen Marktwirtschaft überhaupt erst aufgebaut werden. Ich habe als junger Mensch erlebt, wie in Berlin die Mauer gebaut wurde. Das waren auch extrem schwierige Zeiten. Aber Krisenbewältigung allein reicht nicht für die politische Führung eines Landes. Das muss mehr sein.“
Im Namen des Volkes.