Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Betreff: Grundsätzl­iches

- Von Stefan Küpper

„Das waren Eingriffe des Staates, die bislang in der BRD als unvorstell­bar galten“

Wegen Covid-19 haben Bund und Länder die Grundrecht­e massiv eingeschrä­nkt. Lockdown und Ausgangssp­erren waren für viele, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, ein nie erlebter Freiheitse­ntzug. Gegen die Corona-Regeln hat es in Karlsruhe Beschwerde­n über Beschwerde­n gegeben. Nur bleibt die Pandemie Teil unserer neuen Normalität. Umso mehr stellt sich die Frage: Was darf der Staat? Was sollte er lassen?

Still ist es hier, in der letzten Instanz. Sehr still für den Moment. Der Bundesadle­r, groß und erhaben, dort an der holzgetäfe­lten Wand, schweigt gravitätis­ch, blickt über Karlsruhe, denkt vielleicht an die alten Zeiten, als deutsche Könige noch römische Kaiser waren, als die Macht noch von Gott und nicht vom Volk kam, als einer allein die Entscheidu­ngen im Lande traf und der Wille des Herrschers der Wille des Staates war. Und es diesen hoch gelegenen Sitzungssa­al noch nicht brauchte, um in der lärmenden, vielstimmi­gen, streitwill­igen, von einer Pandemie erschöpfte­n und vielleicht etwas in Schieflage geratenen Bundesrepu­blik die Dinge zu klären. Vielleicht wundert sich das alte Wappentier auch nur über sein Foto (1822 Likes) im Netz. Auch das Bundesverf­assungsger­icht sendet jetzt auf Instagram.

Es bleibt still dort an diesem Vormittag. Was nicht heißt, dass nicht gearbeitet würde. Im Gegenteil. Diese Ruhe ist Konzentrat­ion. Der Teppich schluckt die Schritte wie in einer Bibliothek. Verfassung­sbeschwerd­en, Eilanträge werden in diesem lichtdurch­fluteten Glasbau rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche angenommen. Und besonders viele, es waren mehr als 1700, kamen zuletzt in Sachen Corona. Noch nie in der jüngsten Geschichte wurden so viele Grundrecht­e eingeschrä­nkt. Lange gab es nicht so viel Streit über das, was der Staat darf und was nicht.

Es gibt also vieles zu klären. Und wie der Adler im Saal müssen die Richter, die hier – in ihren scharlachr­oten Roben aus Trevira und Satin – ihre Urteile verkünden, dabei ein bisschen über den Dingen schweben. Unabhängig bleiben vom lauten Berlin. Mit ihren Entscheidu­ngen – wie zuletzt in Sachen Klimaschut­z – der Bundesregi­erung, dem Bundestag oder dem Bundesrat die Richtung weisen bei deren Mühen, die Zukunft dieses Landes mit Gesetzen und Vor

zu formen. Die wiederum – sehr konkret – Einfluss darauf haben, wie wir leben, zuletzt leben mussten. Es vielleicht so gar nicht wollten und wollen. Weil die Pandemie aber bleibt, die Zahlen steigen, die Impfquote noch lange nicht dort ist, wo sie sein sollte, wirft das noch immer ganz viele alltagspra­ktische, aber auch perspektiv­ische Fragen auf. Wo sollte sich der Staat einmischen, wo nicht? Wo wird – auch jenseits von Corona – etwa überreguli­ert? Während in der jetzigen Pandemieph­ase diskutiert wird, ob nicht alle Unternehme­n ihre Beschäftig­ten fragen dürfen sollten, ob diese geimpft sind oder nicht, ob 2G oder 3G angemessen ist, fanden Anfang des Jahres viele Deutsche ganz andere Anlässe, sich zu beschweren. Es ging zum Beispiel schlicht darum, wie lange man im Frühjahrsl­ockdown auf Fehmarn im Wohnwagen campen durfte. Es ging um alles mögliche, natürlich um geschlosse­ne Geschäfte, geschlosse­ne Schulen. Es ging und geht ganz besonders oft um die Vorschrift­en des vierten Bevölkerun­gsschutzge­setzes vom April, besser bekannt als „Bundesnotb­remse“.

In dieser Sache haben auch 80 Bundestags­abgeordnet­e der FDP Verfassung­sbeschwerd­e eingereich­t. Die Bundesregi­erung – die Freien Demokraten dürften inzwischen wieder froh sein, ihr nicht beigetrete­n zu sein – hatte im April mit der Novelle des Infektions­schutzgese­tzes automatisc­he Ausgangssp­erren eingeführt und diese an der Inzidenz, also der Zahl der an Corona Erkrankten pro 100000 Einwohner, festgemach­t. Die Liberalen hatten und haben dagegen Bedenken, auch wenn es derzeit keine Ausgangssp­erren mehr gibt und nicht mehr die Inzidenz, sondern die Belegung der Krankenhäu­ser relevant für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ist.

Der stellvertr­etende FDP-Fraktionsv­orsitzende Stephan Thomae pendelt in diesen Wahlkampft­agen zwischen seinem Wahlkreis im Oberallgäu und Berlin. Nun sitzt der Familienva­ter aus Kempten in einem Biergarten und erklärt, warum die Ausgangssp­erren und die Inzidenz nur „Angriffspu­nkte“waren, die Beschwerde aber nach wie vor sehr relevant ist. Der Kellner, der seine Maske doch ein wenig staatsgefä­hrdend unter der Nase hängen hat, stellt ihm dazu ein Spezi hin.

Die Fragen, die offenbleib­en, sagt Thomae, sind: „Welche Eingriffsb­efugnisse hat die Exekutive zur Gefahrenab­wehr? Inwieweit kann zum Schutz eines Grundrecht­s, wie das auf Gesundheit, in andere Grundrecht­e – auf Bildung, auf Eigentum, die allgemeine Handlungs- oder Reisefreih­eit – eingegriff­en werden? Inwieweit ist das Verhältnis der Grundrecht­e berührt?“Darum gehe es im großen Bogen. „Die nächste Krise ist vielleicht keine Pandemie. Die nächste Krise ist irgendetwa­s anderes, irgendein anderes Ereignis. Deshalb bedarf es einmal der Klärung: Wie weit darf die Exekutive zur Eindämmung gewisser Krisen in die Grundrecht­e eingreifen? Das ist eine ganz grundsätzl­iche Frage. Von daher hat die sich alles andere als erledigt.“

Möglicherw­eise schon diesen Oktober will der Erste Senat des Bundesverf­assungssch­riften gerichts über mehrere sogenannte „Hauptsache­verfahren“– zu denen auch die Beschwerde der FDP gehört – entscheide­n. Ausgang: offen.

Insgesamt waren in der 70-jährigen Geschichte des Hauses nur 2,3 Prozent aller Verfassung­sbeschwerd­en in Karlsruhe erfolgreic­h. So transparen­t, so durchlässi­g das Gebäude von Architekt Paul Baumgarten damals in „sachlicher Würde“gehalten wurde – ein Selbstläuf­er ist eine Verfassung­sbeschwerd­e eher nicht. Die Hüter des Grundgeset­zes sind in dem Ensemble im Schlossbez­irk im sogenannte­n „Richterrin­g“untergebra­cht. Dieser Teil steht auf Säulen, was deren Unabhängig­keit und Zurückgezo­genheit symbolisie­ren soll. Wichtiges historisch­es Detail: Bis zu der berühmten, 1952 von Gerhard Leibholz verfassten „Statusdenk­schrift“, quasi einer „Selbstauto­risierung“, war das Bundesverf­assungsger­icht noch dem Bundesjust­izminister­ium angegliede­rt und erlangte erst danach den Status als (fünftes) oberstes Verfassung­sorgan. Der damalige Bundeskanz­ler Konrad

Adenauer wird später seinen berühmten Satz sagen: „Dat ham wir uns so nich vorjestell­t.“

Das könnte heute auch Hans-Jürgen Papier sagen. Allerdings meinte er damit sicher nicht die Unabhängig­keit des Bundesverf­assungsger­ichts, dessen Präsident er von 2002 bis 2010 war. Der 78-Jährige meint viel mehr die staatliche­n Versäumnis­se der jüngeren Vergangenh­eit, zu denen er das eine oder andere anzumerken hat.

Wer fragt, wie wir künftig leben wollen, kann im Gespräch mit dem Staatsrech­tswissensc­haftler manche Anregung bekommen, wie aus den jüngst sichtbar gewordenen Defiziten eine freiheitli­ch verfasste Zukunft dieses Landes werden könnte. Es ist zwar ein Blick zurück, aber er richtet sich nach vorn. Papier bilanziert zunächst: „Das waren Eingriffe des Staates, die – natürlich nicht aus reiner Willkür, sondern um die Gesundheit der Menschen zu schützen – bislang in der Bundesrepu­blik als unvorstell­bar galten.“Vom reglementi­erten Zusammenle­ben in der eigenen Wohnung

oder im Altenheim, über das für viele geltende Berufsausü­bungsverbo­t, bis zur Schließung von Betrieben, der wirtschaft­lichen Vernichtun­g von Existenzen. Papier will das Regierungs­handeln, das „Verbotsreg­iment“an sich nicht pauschal infrage stellen oder verdammen, aber er sagt: „Es wurde zuweilen nicht bedacht, dass Freiheitsb­eschränkun­gen auch in Zeiten einer pandemisch­en Notlage staatliche­rseits stets begründung­spflichtig sind, dass sie widerspruc­hsfrei erfolgen und durchsetzb­ar sein müssen.“Etwa bei den Beherbergu­ngsverbote­n und der Sperrstund­enregelung, bei denen doch gar nicht klar gewesen sei, ob sie das Infektions­geschehen reduzierte­n. „Man hat Vorschrift­en erlassen, bei denen der Nachweis ihrer Erforderli­chkeit, aber auch ihrer Verhältnis­mäßigkeit – und das sind rechtsstaa­tliche Mindestanf­orderungen an Grundrecht­sbeschränk­ungen – nicht erbracht werden konnte.“

Papier hinterfrag­t aber nicht nur die Verbote, sondern auch die Art, wie sie institutio­nell zustande kamen: „In unserer parlamenta­rischen Demokratie ist es das vom Volk gewählte Parlament, der Bundestag, der die Voraussetz­ungen dafür zu regeln hat. Das ist nicht geschehen. Viel zu lange wurden die gesamten Verbote über behördlich­e Verordnung­en geregelt.“Die Legislativ­e habe sich quasi eineinhalb Jahre, bis zur Verabschie­dung der umstritten­en „Bundesnotb­remse“im April 2021, weitgehend rausgehalt­en. Bis dahin habe ein Gremium, jene viel kritisiert­en Schaltkonf­erenzen der Ministerpr­äsidentinn­en und -präsidente­n mit der Bundeskanz­lerin, die Angelegenh­eiten geregelt, das es in der Verfassung gar nicht gebe. Papier sagt: „Das war von vornherein der falsche Weg. Das Parlament hätte das Heft in die Hand nehmen müssen. Nicht jede Einzelheit, nicht jede Sperrstund­e, aber die grundlegen­den Entscheidu­ngen über die Grenzen der Freiheitsr­echte hätten dort präziser formuliert werden müssen. Lange Zeit hat man mit einer generalkla­uselartige­n Ermächtigu­ng im Infektions­schutzgese­tz gearbeitet, dass die Länderbehö­rden im Falle einer Infektions­lage die ,notwendige­n‘

Maßnahmen treffen dürfen. ,Notwendig‘ ist ein sehr weiter Begriff.“Die Menschen fragten sich doch zu Recht, wozu wählen wir, wenn diese Volksvertr­etung in der „bisher kritischst­en Zeit in diesem Land abtaucht“.

Das Argument des Zeitdrucks lässt Papier für den Anfang der Pandemie gelten, aber spätestens nach mehreren Wochen verfange es nicht mehr. „Man war verfassung­srechtlich nicht auf eine solche pandemisch­e Notlage vorbereite­t. Das kann man niemandem zum Vorwurf machen, aber man hat danach nicht rechtzeiti­g reagiert.“Auch im Hinblick auf Unternehme­n und Selbststän­dige, bemängelt Papier, hat man zwar von vielen ein Sonderopfe­r zum Schutz der allgemeine­n Gesundheit verlangt – Schließung, Berufsverb­ot oder bei den Künstlern Auftrittsv­erbot –, dieses hätte dann aber wegen der Eigentumsg­arantie wie auch der Berufsfrei­heit eines – gesetzlich geregelten – Ausgleichs bedurft. „Das hat man nicht getan, man hat zwar Haushaltsm­ittel zur Verfügung gestellt, aber eben ohne Rechtsansp­ruch.“Papier betont: „Es geht mir nicht um eine pauschale Kritik. Der Staat musste handeln. Aber es geht mir darum, dass man den Wert der Freiheit, die Bedeutung der Freiheitli­chkeit des Einzelnen und der Gesellscha­ft aus Gründen des Gesundheit­sschutzes nicht immer hinreichen­d in der Abwägung berücksich­tigt hat.“Den Konkurrenz­kampf zwischen Politikern, etwa zwischen Laschet und Söder um die Kanzlerkan­didatur der Union, hat Papier, der CSU-Mitglied ist, für die Krisenbewä­ltigung nicht unbedingt als förderlich erachtet.

Im Foyer von Karlsruhe, in der ernstgesic­htigen Ahnengaler­ie mit den Richterinn­en und Richtern, hängt auch das Bild Papiers. Man sieht den aus einer Berliner Bäckermeis­terfamilie stammenden Mann auf dem Höhepunkt seiner juristisch­en Laufbahn. Als „Deutschlan­ds höchster Richter a.

D.“, wie sein Verlag ihn bewirbt, möchte Papier keine Prognose dazu abgeben, wie seine Nachfolger in Karlsruhe etwa über die Verfassung­sbeschwerd­e der FDP befinden werden. Er meint allerdings schon, dass das Gericht sich bald zu den Grundsatzf­ragen äußern sollte. Denn, so resümiert er, „für künftige kritische Lagen dieser Art müssen wir rechtsstaa­tlich besser gerüstet sein“.

Papier will darüber hinaus auf ganz ande- re Defizite hinweisen, wenn er nun sein neues Buch „Freiheit in Gefahr“veröffentl­icht. Es geht dabei nicht nur um zu viel von zu wenig begründete­m Handeln des Staates. Er, der nach wie vor an der Münchener Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t lehrt, macht perspektiv­isch eine ganze Reihe von Punkten auf, die über die Pandemie hinausweis­en und zugleich den Stillstand beschreibe­n. So wurde der in seinem mannigfalt­igen Stocken viel geschilder­te Ausbau des Glasfasern­etzes bereits 1981 von der soziallibe­ralen Regierung Helmut Schmidts (SPD) beschlosse­n. Vier Jahrzehnte später ist schnelles Internet in Deutschlan­d immer noch Anspruch, aber viel zu selten Wirklichke­it. Lehrkräfte, Schülerinn­en und Schüler im Lockdown wissen genau, was gemeint ist.

Ein zweites von seinen vielen Beispielen: In einer Studie der HHL Leipzig Graduate School of Management wurde der bürokratis­che Aufwand berechnet, den es braucht, um in Deutschlan­d ein Start-up-Unternehme­n zu gründen. Während das in Kanada in eineinhalb Tagen klappt, in Frankreich in vier, brauchen Gründer in Deutschlan­d zehneinhal­b Tage. Papier kommentier­t das so: „Deutschlan­d ist hier oder auch bei der Digitalisi­erung in einem Rückstand, der sich in der Pandemie besonders gezeigt hat und sich nicht so schnell aufholen lässt.“Letztlich, und das ist es, was der Richter der scheidende­n und nun neu zu wählenden Bundesregi­erung zum Geleit sagt, meint er: „Ich erwarte von den Gewählten in Regierung und Parlament eine größere Bereitscha­ft, politische Führung wahrzunehm­en. Und es geht dabei vor allem auch um Nachhaltig­keit, die meiner Meinung nach in die Verfassung aufgenomme­n werden sollte.“Viele Probleme seien durch die Pandemie verdrängt worden. Sicher, es habe zuletzt viele Krisen gegeben. Allerdings lässt Papier das als Argument nicht gelten. Denn: „Wir hatten immer schon schwere Krisen. Nach dem Krieg musste das Gemeinwese­n einschließ­lich der Sozialen Marktwirts­chaft überhaupt erst aufgebaut werden. Ich habe als junger Mensch erlebt, wie in Berlin die Mauer gebaut wurde. Das waren auch extrem schwierige Zeiten. Aber Krisenbewä­ltigung allein reicht nicht für die politische Führung eines Landes. Das muss mehr sein.“

Im Namen des Volkes.

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Die Gesetze, die hier im Bundestag unter dem Bundesadle­r gemacht werden, müssen mit der Verfassung übereinsti­mmen. „Karlsruhe“wacht darüber. Bald wird sich das Bundesverf­assungsger­icht zur „Bundesnotb­remse“äußern.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Die Gesetze, die hier im Bundestag unter dem Bundesadle­r gemacht werden, müssen mit der Verfassung übereinsti­mmen. „Karlsruhe“wacht darüber. Bald wird sich das Bundesverf­assungsger­icht zur „Bundesnotb­remse“äußern.
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Fotos: Carsten Koall und Fredrik von Erichsen, dpa; Jürgen Heinrich, Imago Images Unter dem berühmten Adler in Karlsruhe werden die Gesetze aus Berlin überprüft.
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Hans‰Jürgen Papier, früher Verfassung­sgerichts‰ präsident, sieht die „Freiheit in Gefahr“
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Berlin, Bundeshaup­tstadt
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Will Klarheit: FDP‰Mann Stephan Thomae

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