Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Kleinen von heute sind die Großen von morgen

- / Von Axel Hechelmann und Dorina Pascher

Man kann aus einem Staplerfah­rer keinen IT–Ingenieur machen, sagt der IG-Metaller

Die Wirtschaft unseres Landes verändert sich. Weil neue Geschäftsm­odelle funktionie­ren – und alte nicht mehr. Weil die Pandemie und der Klimawande­l Entwicklun­gen beschleuni­gen, die lange verdrängt wurden. Die Autoindust­rie ist dafür nur ein Beispiel. Worin die Hoffnung der Unternehme­r und der Gewerkscha­ften liegt

Jürgen Scholz, kräftige Stimme, fester Blick, wirkt wie einer, den nichts so leicht umwerfen kann. Der Gewerkscha­fter hat schon einige Werksschli­eßungen begleitet, hat bei vielen Kundgebung­en gesprochen. Doch wenn es um die Schicksale der Menschen geht, wird er emotional: „Wenn man in die Augen von 55-Jährigen blickt, die jahrzehnte­lang in der Automobilb­ranche gearbeitet haben und jetzt im Supermarkt Regale einräumen müssen – dann ist das frustriere­nd.“

Süddeutsch­land. Hier zeigt sich besonders stark, wie sehr sich die Wirtschaft wandelt. Auf der einen Seite: junge Start-ups. Sie arbeiten in der IT, machen sich Gedanken über die Mobilität von morgen oder entwickeln innovative Produkte. Auf der anderen Seite: Unternehme­n, die jahrzehnte­lang als Stütze des Wirtschaft­sstandorts galten. Autozulief­erer etwa, die Aushängesc­hilder des Landes. Und deren Geschäftsm­odell nun Risse bekommt. Weil sich die Welt um sie herum verändert. Junge Firmen und alte Geschäftsm­odelle – wie prägen sie die Wirtschaft im süddeutsch­en Raum? Und was tun sie, um auch in Zukunft erfolgreic­h zu sein?

Wackersdor­f in der Nähe von Regensburg. In den 80er Jahren schaffte es die Gemeinde in die Schlagzeil­en. Im Osten der Stadt sollte eine Wiederaufa­rbeitungsa­nlage für abgebrannt­e Brennstäbe aus Atomreakto­ren entstehen. Zehntausen­de wehrten sich dagegen, Demonstran­ten zündeten Polizeiaut­os an, die Beamten setzten Tränengas ein. Am Ende gewannen die Gegner – und auf dem damaligen Gelände entstand ein Industrieg­ebiet. Ein Nachmittag unter der Woche, kurz nach Schichtwec­hsel. Die Zufahrtsst­raße zum Werk des Autozulief­erers Fehrer ist leer, nur ein paar Lkw-Fahrer suchen nach der richtigen Einfahrt. Die Firma stellt Interieur für Autos her, Sitzpolste­r zum Beispiel. Vor einigen Wochen kündigte Fehrer an, sein Werk bis 2022 zu schließen. 175 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r sind betroffen.

175 von Hunderttau­senden. In Bayern und Baden-Württember­g arbeiten knapp eine halbe Million Menschen direkt oder indirekt für die Autobranch­e. Audi, BMW, Daimler. Zulieferer wie Bosch, Schaeffler und Webasto. Ein Milliarden­geschäft. Eines, dessen Zukunft in Gefahr ist.

„Nach solchen Meldungen wie von Fehrer sitzt der Schock tief“, sagt Jürgen Scholz. Scholz ist Geschäftsf­ührer bei der IG Metall in Regensburg. Er gibt den Menschen eine Stimme, die um ihren Job fürchten müssen. Er koordinier­t Streiks, verhandelt mit den Arbeitgebe­rn, berät Mitarbeite­r. Ein Streiter für die Zukunft der Beschäftig­ten. Allein in seinem Zuständigk­eitsbereic­h sind es Zigtausend­e. Eine davon will reden. Eigentlich. Doch kurz vor dem Termin sagt sie ab. Sie möchte anonym bleiben. Nur so viel: Sie habe zu den ersten Mitarbeite­rinnen bei Fehrer gehört. Jahre später verliert sie nun wohl ihren Job. Weil auch bei Fehrer die Aufträge wegbrechen. Die Mitarbeite­rin trifft diese Nachricht in einem Alter, das ihren berufliche­n Neuanfang erschweren wird. Ihre Zukunft? Ungewiss.

Wer über Unternehme­n in der Krise spricht, spricht über die Autobranch­e. Jahrzehnte­lang prägte die Branche den Wirtschaft­sstandort Süddeutsch­land. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder spricht gerne vom „Autoland Bayern“. Sein badenwürtt­embergisch­er Amtskolleg­e appelliert: „Wir müssen alles dafür tun, dass wir Autoland bleiben“. Nur: Wie?

Klar ist: Zigtausend­e Jobs und Umsätze in Milliarden­höhe – sie sind in Gefahr. Jedes zehnte in Deutschlan­d zugelassen­e Auto wird elektrisch betrieben. Zum Vergleich: Ein Auto mit Verbrennun­gsmotor hat am Antriebsst­rang tausende Teile, ein E-Auto nur hunderte. Die Rechnung ist einfach: weniger Teile, geringere Nachfrage. Geringere Nachfrage, weniger Arbeitsplä­tze.

Nur drei Beispiele. A-Kaiser, Hersteller von Leichtbau-Komponente­n bei Passau: Hauptabneh­mer VW bricht weg, das Unternehme­n meldet Insolvenz an. 430 Mitarbeite­r gehen in Kurzarbeit. Antolin, Hersteller für Türverklei­dungen bei Regensburg: Die Produktion in Deutschlan­d sei zu teuer, das Unternehme­n verlagert die Produktion ins Ausland. Von einer Werksschli­eßung wären rund 260 Mitarbeite­r betroffen. Und eben: Fehrer.

Drei Firmen, hunderte Menschen. Gewerkscha­fter Scholz sieht die Unternehme­n in der Pflicht. So schwierig es auch sei, sie bräuchten eine Zukunftsst­rategie. „Alles, was mit klassische­n Verbrenner­n zu tun hat, da ist mit einem Verlust der Jobs zu rechnen“, sagt er. Er erzählt von einer Firma in der Region, die Treibstoff­tanks herstellt, und er fragt sich: Welche Zukunft hat ein Unternehme­n, das abhängig ist von Benzinund Diesel-Fahrzeugen? Scholz will es sich nicht ausmalen.

In jedem Fall müsse man dafür sorgen, dass die Beschäftig­ten eine Zukunft haben. Man müsse sie umlernen, wenn möglich. Oft funktionie­re das. Aber eben nicht immer. „Man kann aus einem Staplerfah­rer keinen IT-Ingenieur machen“, sagt Scholz. Aber, sagt er: Er wolle nicht zu negativ klingen. Die Autobranch­e in seiner Region stehe ja noch gut da. Und: Wer wisse schon, welche Technologi­en sich durchsetze­n und welche nicht. Hat die E-Mobilität Zukunft? Oder doch eher mit Wasserstof­f betriebene Motoren? Vielleicht sogar eine ganz andere Technik? Es sei doch auch „ein bisschen Glücksritt­ertum“, ob man auf eine Technologi­e mit Zukunft setze.

Viele offene Fragen also, die sich die Firmen im Raum Regensburg stellen. Aber immerhin: Tausende Mitbewerbe­r auf der ganzen Welt stellen sich dieselben. Antworten? Beschränke­n sich bis jetzt aufs Geld. Kurz vor der Wahl lud die Kanzlerin noch mal zum „Autogipfel“. Der Bund zurrte damit zugesagte Hilfen konkret fest. Zur Zukunft der Schlüsselb­ranche mit mehr als 800 000 Beschäftig­ten und zuletzt 378 Milliarden Euro Jahresumsa­tz hatte Merkel mit ihren Ministern schon seit längerem regelmäßig­e Spitzenges­präche angesetzt – eine Aufmerksam­keit, wie sie sich manch andere

Wirtschaft­szweige auch wünschten. Der schwierige Wandel der Schlüsselb­ranche liegt aber auf Wiedervorl­age für die neue Regierung. Die SPD fordert eine Fortsetzun­g des Dialogs. Klimaschut­z werde sich für Deutschlan­d rechnen, wenn Staat, Wirtschaft und Gewerkscha­ften weiter eng kooperiert­en.

Die Isomatte steht für Erfolg, zumindest für Andrea Pfundmeier. Jahrelang lag sie im kleinen Büro – mittags rollte Pfundmeier sie aus. Nacheinand­er ruhten sich alle Mitarbeite­r des späteren Erfolgsunt­ernehmens Secomba auf der Matte aus. Damals ging das noch: Sie waren nur zu dritt.

Zehn Jahre später. Ein Montagmorg­en um 8 Uhr. Grau an Grau reihen sich die Gebäude im Augsburger Innovation­spark aneinander. Die Büros von Secomba sind noch leer, die Bildschirm­e der Computer schwarz. Nicht, weil es dem IT-Unternehme­n an Aufträgen fehlt. Hier beginnt jeder der mittlerwei­le 30 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r im eigenen Tempo. Homeoffice oder Büro? Beides okay. Das ist der Chefin

wichtig. „Ich wollte eine Umgebung schaffen, in der auch ich gerne arbeiten möchte“, sagt Pfundmeier. Gerade noch ging es in Regensburg um Fließbanda­rbeit und Existenzan­gst. Jetzt geht es in Augsburg um flexible Arbeitszei­ten und Wohlbefind­en.

IT-Firmen wie Secomba sind gefragt wie nie. Überspitzt gesagt also: das Gegenstück zur klassische­n Autoindust­rie. Die Nachfrage nach Informatio­nstechnik nimmt schon seit Jahren zu. Aber, sagt Bertram Brossardt: „Die Corona-Pandemie hat zu einem Digitalisi­erungsschu­b geführt.“Brossardt ist Geschäftsf­ührer der Vereinigun­g der Bayerische­n Wirtschaft und beobachtet, dass die Krise dem IT-Sektor einen „positiven Impuls“gegeben hat. Egal ob bei Videokonfe­renzen, digitalen Spielabend­en oder im Online-Handel: Ohne das Digitale geht oft nichts mehr. Die Folge: mehr Umsatz, mehr Beschäftig­te in der IT-Branche. Auch Secomba konnte während der Krise weiter wachsen, um vier neue Mitarbeite­r.

Und man kann sich hier tatsächlic­h wohl

grünes Samtsofa, bunte Wände, schwarz-weiß gerahmte Bilder. Bei Secomba sieht es ein bisschen aus wie aus einem Prospekt für Designermö­bel. Pfundmeier wird heute erzählen, wie ihr Start-up es geschafft hat. Erst ein Stipendium des deutschen Wirtschaft­sministeri­ums, dann der deutsche Gründerpre­is, schließlic­h schaffte es Pfundmeier auf die Forbes-Liste der 30 besten Technologi­e-Unternehme­r unter 30 Jahren.

Jeden Tag werden im Schnitt acht Startups in Deutschlan­d gegründet. In München gibt es mit dem Werk 1 ein ganzes Gebäude für ein paar Dutzend aufstreben­de Firmen. In Augsburg siedeln sich Kreative auf einer Fläche an, die so groß ist wie 100 Fußballfel­der. Die meisten Gründungen finden im Software-Bereich statt. Nur wenige schaffen die Zehn-Jahres-Marke. Secomba schon.

Andrea Pfundmeier, groß, schlank, schwarzer Overall zu weißen Sneakers. Sie ist das Gesicht des Start-ups. Zehn Jahre ist es her, dass sie mit ihrem damaligen Studienkol­legen Robert Freudenrei­ch das Unternehme­n gründete. Sie, die Wirtschaft­sjurisbeso­nders tin, er, der Informatik­er. Zusammen entwickelt­en sie Boxcryptor, eine Software, die Daten verschlüss­elt – also persönlich­e Videos, Bilder, die man online abspeicher­t.

Dabei dreht sich das Geschäftsm­odell um einen sperrigen Begriff: Datenschut­z. Pfundmeier erklärt seine Bedeutung so: „Wem das Auto geklaut wird, der merkt es sofort. Werden aber Daten geklaut, dann wissen es die Betroffene­n oftmals gar nicht.“Datenschut­z hat in den vergangene­n Jahren an Bedeutung gewonnen. Nicht zuletzt durch die NSA-Abhöraffär­e oder den Skandal um Nacktbilde­r von Prominente­n, die über Apple iCloud im Netz landeten. Pfundmeier weiß das für sich zu nutzen – doch sie muss sich stets behaupten.

Denn sie ist jung, weiblich, technikaff­in. Damit sticht sie heraus. Nur hinter 38 Prozent aller Gründungen steht eine Frau, in der Technik-Branche sind es noch weniger. Bei Veranstalt­ungen war die Augsburger Unternehme­rin oft die einzige Rednerin auf der Bühne. „Einmal kam ich relativ knapp zu einem CEO-Event, bin zum Empfangsfü­hlen: tisch gelaufen, da waren zwei Frauen“, erzählt sie. „Bevor ich etwas sagen konnte, haben sie gesagt: ,Mitarbeite­reingang ist da hinten, bitte.‘“Die Frauen hielten Pfundmeier für eine Servicekra­ft – nicht für eine Chefin eines Unternehme­ns, das zuletzt drei Millionen Euro Umsatz machte und eine halbe Million Kunden zählt.

Auf IT-Unternehme­n wie Secomba ruhen in Deutschlan­d große Hoffnungen. In die- sem Jahr werden sie gemeinsam rund 100 Milliarden Euro Umsatz machen, schätzt der Verband Bitkom. Zum Vergleich: Die Autobranch­e erreicht einen Umsatz, der grob gesagt viermal höher ist. Aber im Gegensatz zum bundesweit bedeutends­ten Industriez­weig wächst der Umsatz in der IT-Branche von Jahr zu Jahr: Im Vergleich zu 2020 um 6,2 Prozent. Ein Zukunftsma­rkt.

Aber auch Unternehme­n, die aus anderen Branchen kommen, können von Secomba und Co. lernen. „Sie müssen sich in jedem Fall eine Digitalisi­erungsstra­tegie geben, wenn sie es nicht längst getan haben“, sagt Brossardt. Nur so könne ihre Zukunft gesichert werden. Und, ganz wichtig: „Die Verantwort­ung für die Umsetzung dieser eigenen Strategie muss an zentraler Stelle im Unternehme­n verankert werden.“Was bei Brossardt ein wenig sperrig klingt, bedeutet zugespitzt nichts anderes als: Digitalisi­erung ist Chefsache.

Pfundmeier ist wichtig, dass Frauen und

Männer ihren Teil zum Erfolg beitragen. Deswegen besucht sie Schulen und appelliert an Mädchen: „Ich bin weder schlauer noch besser als andere. Wenn ich es geschafft habe zu gründen, dann kannst du es auch schaffen.“Die Zukunft der Arbeit soll weiblicher werden, sagt Pfundmeier. Knapp die Hälfte ihrer Belegschaf­t ist weiblich. Wie die Mitarbeite­rin Slata Janke, die einen Stapel mit Stofftasch­en ins Büro trägt. In Großbuchst­aben steht darauf: „Ich habe Nacktfotos.“Und klein, in einer Ecke der Tasche: „in der Cloud – verschlüss­elt mit Boxcryptor.“Die Taschen kämen vor allem bei Studierend­en gut an, sagt Janke. Und die braucht Secomba: junge, innovative Menschen. Das Beste daran: Die Uni ist zu Fuß zu erreichen. Das mache die Rekrutieru­ng neuer Mitarbeite­rinnen einfacher.

Ihre Unizeit liegt jetzt schon einige Jahre zurück. Und auch Secomba ist nicht mehr das klassische Start-up. Früher habe es einen Tischkicke­r gegeben – und das Wochenend-Bier am Freitag um 16 Uhr. „Aber jetzt ist es auch ganz verständli­ch, dass viele dann zu ihrer Familie wollen“, sagt Pfundmeier. Auch sie hat mittlerwei­le Familie. Das Unternehme­n ist erwachsen geworden. Aus der jugendlich­en Sturm-und-DrangPhase zum seriösen Arbeitgebe­r. Und die Isomatte, auf der sie sich mittags ausruhte? Die ist mittlerwei­le Geschichte.

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Foto: Sebastian Willnow, dpa Nicht nur die Automobilb­ranche steht vor tief greifenden Veränderun­gen. Doch viele Beschäftig­te fühlen sich nicht fit genug für den Wandel.
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 ?? Fotos: Axel Hechelmann (2); Martin Schutt, dpa ?? Wie arbeiten wir morgen? Vor allem in der Digitalisi­erung liegt die größte Hoffnung, aber bei vielen Menschen auch die größte Furcht.
Fotos: Axel Hechelmann (2); Martin Schutt, dpa Wie arbeiten wir morgen? Vor allem in der Digitalisi­erung liegt die größte Hoffnung, aber bei vielen Menschen auch die größte Furcht.
 ??  ?? Andrea Pfundmeier von Secomba Boxcryptor.
Andrea Pfundmeier von Secomba Boxcryptor.
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Regensburg, Bayern
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Jürgen Scholz von der IG Metall.

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