Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Von Menschen, die auszogen, ihr Glück zu finden
Seit dem Flüchtlingssommer von 2015 hat es das Thema Zuwanderung schwer in der deutschen Politik. Dabei muss gerade der Zuzug aus dem Ausland gesteuert werden, um diesen Menschen genauso wie der Mehrheitsgesellschaft gerecht zu werden. Die Fehler der Vergangenheit lehren dabei einiges für die Zukunft. Vor allem im Alltag müssen Hürden abgebaut und Hilfen angeboten werden
Mehmet Kurtoglu hat es geschafft. Der 60-Jährige hat in seinem Leben alles erreicht, was er erreichen wollte. Kurtoglu steht im Büro seiner Tankstelle in Königsbrunn. Er blättert in Ordnern und zeigt auf die Zertifikate, die er sich in den vergangenen Jahrzehnten in Augsburg erarbeitet hat. Stolz ist er auf seine Errungenschaften, auf eine aber ganz besonders: Der „Master of Engineering“hängt eingerahmt über seinem Schreibtisch. Ein Ehrenplatz. 2004 begann er berufsbegleitend den Masterstudiengang für Ingenieure „Technologie Management“an der Hochschule Augsburg, drei Jahre später hielt er sein Diplom in den Händen. „17 Ingenieure hatten den Masterstudiengang begonnen, sieben haben ihren Titel erhalten“, erinnert er sich. Doch so stolz er auf den Abschluss ist, so bitter ist für ihn der Zeitpunkt seines Erfolges. Erst 2004 wurde in Deutschland sein Ingenieurstudium, das er in Istanbul abgeschlossen hatte, anerkannt – 15 Jahre, nachdem er in Schwaben eine neue Heimat gefunden hatte. „Verlorene 15 Jahre. Schade“, sagt er. Denn wer weiß, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er sich von Anfang an als Ingenieur hätte bewerben können.
Kurtoglus Beispiel ist eines von tausenden, ja, wahrscheinlich hunderttausenden. Und es zeigt vor allem eines: Wie schwer sich Deutschland noch immer tut in seiner Rolle als Einwanderungsland. Wer einen Blick auf Gegenwart und Zukunft im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft werfen will, muss auch in die Vergangenheit blicken, um Sorgen und Nöte zu verstehen. Und die sind ganz oft alltäglich. Bis 2012 habe es in Deutschland einen „Wildwuchs“an Anerkennungen von ausländischen Schulabschlüssen, Berufsausbildungen und Studien gegeben, sagt Margret Spohn, Leiterin des städtischen Büros für gesellschaftliche Integration in Augsburg. „Sie unterschieden sich von Bundesland zu Bundesland, von Stadt zu Stadt und von Sachbearbeiter zu Sachbearbeiter“, sagt sie. Und erzählt die Geschichte von zwei Personen, beide gingen in den 80er Jahren mit denselben Zulassungsvoraussetzungen in dieselbe Behörde in München – und erhielten dort zwei unterschiedliche Zulassungen. „Ein Sachbearbeiter hat einen Hauptschulabschluss anerkannt, der andere Sachbearbeiter einen Zugang für ein Fachhochschulstudium. So verliefen die Lebensläufe der beiden Personen natürlich anders“, sagt sie. Spohn weiß, wovon sie spricht: Augsburg ist eine der Städte in Deutschland mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. 47,1 Prozent waren es im Jahr 2020 – die Zahl steigt seit vielen Jahren. Darunter befinden sich 21 150 Personen mit türkischen, 18700 mit rumänischen Wurzeln, über 9300 Menschen, deren Wurzeln in den Ländern der russischen Föderation liegen, 8100 aus Kasachstan und 7750 aus Polen. Insgesamt leben Menschen aus 175 verschiedenen Herkunftsländern in Augsburg. Gastarbeiter, Bürgerkriegsflüchtlinge, Spätaussiedler. Manche leben miteinander, manche nebeneinander. Die Politik versucht, zu steuern. Und das wird auch von ihr erwartet: In einer aktuellen Studie der R+V-Versicherung zu den Ängsten der Deutschen zeigte sich, dass das Thema Migration die Menschen im Land nach wie vor bewegt. In der Politik ist dies weniger im Fokus als noch vor vier Jahren, doch bei den Ängsten rangiert die „Überforderung des Staats durch Geflüchtete“mit 45 Prozent immerhin auf Rang vier – deutlich vor der (Rang acht). Die Parteien versuchen, sich mit dem Satz zu retten, dass sich 2015, also das Jahr der Flüchtlingskrise, nicht wiederholen dürfe. Konzepte zur Integration oder gar Angebote an Migranten sind hingegen eher spärlich gesät.
Kurtoglu erinnert sich noch gut an seine Anfänge. Er kam 1989 nach Augsburg. Aufgewachsen war er in Komotini im Nordosten Griechenlands, hat die griechische Staatsangehörigkeit, gehört aber der türkisch-muslimischen Minderheit an. Nach seinem Abitur studierte er in der Türkei. Als er in seinen Geburtsort zurückkehrte, machten es ihm die politischen und wirtschaftlichen Umstände schwer, einen Job zu finden, der seiner Qualifikation entsprach. Er ging nach Deutschland. Doch sein Abschluss war nichts wert, und so arbeitete er sechs Jahre als Spinner und Partiewechsel-Gruppenführer in der Augsburger Kammgarn-Spinnerei in der Nachtschicht. Sein größtes Problem war ohnehin ein anderes: Er sprach kein Wort Deutsch. Noch heute gilt die Sprache als das größte Integrationshemmnis für Ausländer.
Kurtoglu belegte Abendkurse bei Kolping. Ein Jahr später holte er Ehefrau Netzla und die kleine Tochter nach Augsburg. Im Supermarkt nahmen sie sich immer zwei, drei Zeitschriften mit und förderten so das Erlernen der Sprache. „Wir haben Sendungen wie ,Glücksrad‘ oder ,Der Preis ist heiß‘ gesehen und dabei Einblick in die deutsche Sprache und Kultur erhalten“, erzählt Kurtoglu. Er weiß: „Integration beginnt mit der Beherrschung von Sprache – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite erfordert sie eine offene Gesellschaft, die gerne Willkommen heißt und faire Chancen bietet.“
Die berufliche Situation für viele Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland kamen, verbesserte sich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen im April 2012. „Das kam natürlich wahnsinnig spät. Da hatten wir ja bereits 40 Jahre Einwanderung hinter uns“, sagt Margret Spohn. Erst in den 2000er Jahren wurde in Deutschland davon gesprochen, dass die Republik ein Einwanderungsland sei. In den 60er Jahren sei man noch von einem Rotationssystem ausgegangen – von einem immer wiederkehrenden Prozess des Ein-, aber auch wieder Ausreisens von Menschen ausländischer Herkunft. 2005 wurden staatlich geförderte Integrationskurse eingeführt. Spohn: „Diese beinhalten Deutsch- und Orientierungskurse. EU-Bürgerinnen und -Bürger sind berechtigt, diese Kurse abzulegen, Drittstaatsangehörige sind verpflichtet. Grundsätzlich empfindet ein Großteil der
Menschen diese Kurse als eine riesige Chance. Schließlich ist Deutsch das A und O.“Menschen, die heute aus dem Ausland nach Augsburg kommen, finden Strukturen vor, die sie unterstützen. „Früher gab es keine Infrastruktur. Heute gibt es Vereine, Ärzte, Läden, organisierte Hilfe, Communities, die die Zugezogenen ansteuern können. Und es gibt unsere App Integreat.“Ob ein Einwanderer es schafft, hier Fuß zu fassen oder nicht, hänge an vielen Faktoren, weiß sie. „Waren die Angebote zielführend? Hatte der Mensch einen sicheren Status? Hat die Person rassistische Diskriminierung erlebt?“, zählt Spohn auf. Wer diskriminiert werde, ziehe sich womöglich zurück. Wer integriert sei, fühle sich zu Hause.
Ulfatullah Safi, 22, aus Afghanistan und Ibrahim Jarju, 24, aus Gambia fühlen sich zu Hause. Beide haben in Augsburg eine Ausbildung zum Koch abgeschlossen und arbeiten in der Küche des Café Viktor im Bismarckviertel. Ulfatullah, von seinen Kollegen kurz Ulf genannt, ist seit 2015 in Deutschland. Er habe alle Chancen ergrifKlimakrise
fen, die sich ihm geboten haben, erzählt er in fließendem Deutsch. „Wenn man es hier schaffen will, dann muss man seine Gelegenheiten nutzen. Man muss sehr viel selber tun“, weiß der junge Mann. Mit seinem starken Willen hat er viel erreicht: Neben seiner abgeschlossenen Berufsausbildung hat er einen Führerschein gemacht und wohnt in einer Wohnung in der Innenstadt. Aber natürlich bedürfe es auch Hilfe. Die hat Safi erhalten. „Sehr dankbar“sei er seiner Betreuerin von Kolping, die ihn in seinen Anfangsjahren begleitet und auch zu der Ausbildung im Café Viktor gebracht hat. Dort traf er seinen Chef Bernard Golik, der in Augsburg geboren ist, aber einen kroatischen Pass hat. Seine Eltern kamen als Gastarbeiter nach Deutschland. Dass er in den vergangenen Jahren unter anderem drei afghanischen und drei gambischen Flüchtlingen eine Ausbildung in seinen Lokalen ermöglichen konnte, war sein expliziter Wunsch. „Irgendjemand muss ihnen eine Chance geben“, sagt er. Eine Ausbildung zum Koch sei nicht schlecht. Damit könnte
letztlich auf der ganzen Welt arbeiten. „Lohn und Brot“sind für Golik die Grundbausteine der Integration, die „viele Bürokratie“, die ihm die Anstellung von Beschäftigten mit Migrationshintergrund beschert, nimmt er dafür zähneknirschend in Kauf. In seinen Augen könnte es den Arbeitgebern einfacher gemacht werden, hier sieht er einen wichtigen Ansatz für die Zukunft. „Ich bin aber auch sehr froh, dass Geflüchtete im Gegensatz zu früher arbeiten dürfen.“
Arbeit als Integrationsmotor – es klingt so logisch und ist doch nach wie vor nicht selbstverständlich. Die Auswertungen des Augsburger Integrationsberichts zeigen, dass selbst Akademiker und Akademikerinnen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so häufig arbeitslos sind wie die ohne Migrationshintergrund. Zwar sprechen sich CDU und CSU für eine „gesteuerte und gezielte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt“aus, von der Deutschland profitieren könne. Doch Flüchtlinge haben sie damit selten im Blick. Dänemark, ein Land mit einer überaus strengen Asylpolitik, plant hingegen, Migranten künftig sogar zu einer Arbeit zu verpflichten und dadurch die Integration voranzutreiben. Und nicht nur das: Eine Migrantenquote in Wohngebieten soll der Bildung von Parallelgesellschaften vorbeugen, den Kontakt zwischen Einheimischen und Zugezogenen fördern. Der deutsche Sachverständigenrat für Integration und Migration drängt darauf, die Einbürgerungsraten deutlich zu erhöhen.
Zurück zu Mehmet Kurtoglu an der Königsbrunner Tankstelle. Ihm war seine Integration und die seiner Familie stets wichtig. Der Kontakt zu deutschen Nachbarn war selbstverständlich, beide Töchter besuchten das Gymnasium und machten Abitur – eine hat in Rechtswissenschaften promoviert, die andere hat Erziehungswissenschaften studiert. Der 60-Jährige will seine Erfahrung weitergeben, engagiert sich seit 2010 im Integrationsbeirat der Stadt Augsburg. Damit vertritt er Menschen mit Migrationshintergrund in der Stadtpolitik und setzt sich ein für Chancengleichheit. Er ist davon überzeugt, dass der Staat Menschen wie ihm mehr Chancen geben müsste. Schließlich könne er aufgrund seines interkulturellen Erfahrungsschatzes oft leichter Kontakt mit Menschen mit Migrationshintergrund aufnehmen, Netzwerke einrichten und ausbauen. Und noch etwas fordert er: „Ich habe mich öfter gefragt, warum ich den Stadtrat wählen kann und ein Großteil von Migrantinnen und Migranten, deren Wurzeln außerhalb der EU liegen, nicht“, sagt der Grieche. Sie würden genauso Steuern bezahlen und sich am Wachstum der deutschen Wirtschaft beteiligen. In seinen Augen ist politische Teilhabe eine wichtige Grundvoraussetzung für Anerkennung, Mitsprache, gegenseitiges Verständnis und für eine gemeinsame Weiterentwicklung. Tatsächlich fordern Experten längst, zumindest zu prüfen, ob es verfassungsrechtlich möglich wäre, Ausländern aus Drittman staaten die Teilnahme an Kommunalwahlen in ihrem Wohnort zu erlauben. Seit 1992 können immerhin Personen, die in Deutschland leben und die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union haben, auf kommunaler Ebene abstimmen. Bei Landtags- oder Bundestagswahlen sind aber auch sie ausgeschlossen.
Doch so sehr auch an den Rahmenbedingungen geschraubt wird, vieles bleibt eine Frage der Haltung. „Irgendwann kann nicht mehr von Mehr- oder Minderheiten gesprochen werden. Irgendwann kann auch der Migrationshintergrund nicht mehr die Ursache von Konflikten sein“, sagt Margret Spohn, die Augsburger Integrationsexpertin. Menschen, deren Wurzeln in Japan, Ruanda, Amerika, Afghanistan oder sonstwo auf der Welt liegen, könnten eben nicht alle über einen Kamm geschoren werden. „Dafür sind sie zu unterschiedlich.“Sie wünscht sich, dass Menschen mit Migrationshintergrund als selbstverständlicher Bestandteil der Bevölkerung gesehen werden und sie ihren Platz in der Gesellschaft finden. „Man darf die Geschichte der Migration, die sich durch die Geschichte der Stadt Augsburg zieht, nicht vergessen. Sie sind damals gerufen worden und werden wieder gerufen, weil wir einen Fachkräftemangel haben“, sagt Spohn. „Jetzt haben wir die Chance, aus den Fehlern der Anwerbung der Gastarbeiterinnen
und Gastarbeiter zu lernen. Wir wissen, was wir brauchen, wir haben die Strukturen.“
Welche Auswirkungen zu geringe Einwanderung in den niedriger qualifizierten Bereich habe, könne derzeit in Großbritannien beobachtet werden, warnte kürzlich Tobias Heidland vom Institut für Weltwirtschaft in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Eine stark ablehnende Politik gepaart mit negativer Kommunikation gegenüber Migrierenden habe zum Beispiel im Erntebetrieb und in Schlachthöfen dazu geführt, dass Arbeitskräfte fehlen – aber auch in den Supermärkten und der Gastronomie. Mittelfristig würden Unternehmen große Schwierigkeiten haben, besonders für einfachere Tätigkeiten Menschen zu finden.
Im Café Viktor wird das Miteinander gelebt – auch kulinarisch. Auf der Speisekarte darf ein Wurstsalat nicht fehlen. Ulfatullah Safi bringt aber auch immer wieder eine afghanische Spezialität auf den Tisch: Mantu. „Das sind gedämpfte Teigtaschen, die mit Rinderhackfleisch gefüllt sind“, erzählt er. Dem Chef gefällt die Entwicklung. Bernard Golik sagt: „Natürlich muss man die Rezepte mancher Speisen erst einmal europäisieren, bevor sie hier angeboten werden. Aber unsere Köche motiviert es, wenn sie den Augsburgern einmal ihre Gerichte vorstellen können.“